Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 868
Text
Aus dem Czechischen von Jiri Karasek—Kniha aristokratická.
Deutsch von Eugen Trager.
Du, der du mit mir verbrüdert durch die lärmenden
Strassen des Lebens gehst, Freund, dessen Träume Düfte
ausgossen in die stolze Einsamkeit meiner Tage, singen will
ich in Farben meines Liedes die glühende Neigung deiner
Seele und in Wellen der Musik, in Rhythmen melancholischer
Strophen dir sagen: Bruder!
Rosen blühen uns nicht im irdischen Garten, wo andere
pflücken. Freuden laden uns nicht in den Saal, wo anderen
Festmähler bereitet. Vereinsamt gehen wir, die Augen vom
Nebel verschleiert, unserer Sonne nach, der unbekannten,
wie Waller trunken vom Duft, der dem Muskate entquoll,
der Minze entströmte.
Auf unsere Wege fallen Schatten wie von schwarzen
Fahnen, die ausgehängt sind am Begräbnisstage. In unseren
Seelenhäfen faulen langsam die abenteuerlichen Schiffe fremder
Zonen. Und Wunsch und Sehnsucht, die wie kranke Geigen
in unseren Seelen weinen, umwehen uns mit unbekanntem
Beben der grenzenlosen, zerstäubten, kosmischen Trauer.
Verbannte in dem Strassenkoth des Heute, unter dem
trüben, rauchbeschmutzten Himmel, die wir geboren wurden
für weisse Tage froher Feste und für harmonisch feine,
glühnde Farben; wir tragen in der Seele der Linien Schön-
heit und das Lächeln, die in erblassten Wangen blühen, und
dort, wo uns das Hohngelächter verwunden will, dort träumen
wir von der Paläste marmornen Schöne.
Und von der Sonne, von dem hellen Himmel, der blau
und goldig fluthet, träumen wir, von heiligen Hainen mit
schlanken Gottheiten in stolzer Nacktheit; und unsere Träume
schweifen in die Ferne, wie Pilgerzüge nach geweihten Orten,
und unsere Gedanken folgen ihnen wie müde Wolken dem
Fluge weisser Vögel.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 868, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-23_n0868.html)