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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 866

Text

866 OBSTFELDER.

Er ist gross. Seine kräftigen Arme hängen herab, als schäme er
sich ihrer Kraft und wollte diese am liebsten verleugnen. Er geht
etwas gebeugt im Rücken, und er hat es doch nicht nöthig. Er hat
Augen von lichter, blauer Farbe, die so schön sein müssten, wenn sie
klar und froh wären.

In der letzten Stunde wird er lebhafter. Er erzählt aber sehr
wenig von sich selbst und nichts von seiner Vergangenheit. Es gefällt
ihm am besten, von allen möglichen Dingen, worüber er grübelt, zu
reden, und das Gespräch fängt in der Regel damit an, dass er
plötzlich ohne Vorbereitung ein Urtheil aufwirft.

Gestern z. B. fing er folgendermassen an:

»Die Menschen denken nur daran, das Leben zu verstehen, nie
aber das Sterben. Sie sollten jeden Tag lernen, sterben zu können.
Nicht so, dass sie ihre Triebe und Wünsche gewaltsam ersticken
sollten, sie sollten nicht so viel Acht darauf geben. Sie sollten in einer
Art Schlaf herumgehen, damit all die grossen Weltträume kommen
und die Dinge wachsen können und Alles rings um sie rede.«

Er schwieg eine Weile, horchte auf den Regen. Es war, als
lägen Wille und Wildheit in den Tropfen. Dann fuhr er fort:

»Der Tod ist kein Nichts. Es gibt kein Nichts. Der Nirwana-
Wunsch kommt von der Furcht vor dem Leiden. Das Leiden, das
Leiden, das sollten wir begehren. Was ist das Leben Anderes als der
Widerstand gegen etwas, was ausser uns ist und uns formen will, und
welchem jeder Mensch sein »Ich« entgegensetzt. Nicht darum, weil dieses
»Ich« dem Weltleben neue Schätze zuführen will. Nein, nur um es geltend
zu machen, aus Machtbegierde. Wer zu sterben versteht, kämpft nicht
gegen die weisen Kräfte, die er nicht kennt, er nimmt sie an, und
eben dann geschieht es, dass es am mächtigsten in ihm schwillt, dass
es am feinsten in ihm singt. Die Natur versteht es besser, das Erdenleben
zu gemessen, sie versteht zu sterben, sie will sterben!«

Ich erzählte ihm, woran ich eben gedacht hatte, bevor er kam,
dass auch die Natur gegen die zerstörenden Kräfte kämpft und leben
will, so lange sie kann.

»Im Gegentheil,« fuhr er fort, »ich glaube, dass die Natur ihr
schönstes Leben hat, wenn sie erblasst. Nichts stirbt so schön wie die
Blätter. Sie kleiden sich in die schönsten, wärmsten Farben, welche
die Erde besitzt. Sie nehmen den Tod an, sie sehnen sich danach,
das Hehre zu empfinden, welches in ihnen vorgehen soll. Willig neigen
sie sich vor dem Regen, indem sie ihn schmeichelnd an sich herab-
gleiten lassen, und weil sie nicht mit den freundlichen Mächten kämpfen,
wird der Tod so sanft, so wunderbar schön.«

Er hat den ganzen Tag vor mir gestanden. Ich habe ihn vor
mir gesehen, wie er da sitzt, in den Stuhl zurückgelehnt, den Kopf
aber vornübergebeugt. Die Kochlampe säuselt und wirft einen goldenen
Schein über seine starke nach hinten gebogene Stirne, es ruht ein ge-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 866, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-23_n0866.html)