Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 880

Josef Kainz im Burgtheater (Schik, F.)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 880

Text

880 SCHIK.

Schon zur Zeit Mitterwurzer’s wäre selbstverständlich eine tief-
gehende Reorganisation des Burgtheaters erspriesslich gewesen, jetzt
nach dem Engagement Kainz’ ist sie unerlässlich. Mitterwurzer hat
den alten Styl des Burgtheaters zur höchsten Blüthe gebracht — mit
Kainz kommt ein ganz neuer ins Haus. Dieser Künstler nimmt sich
jetzt hier wie ein fremdsprachiger Schauspieler aus, der in einem
deutschen Ensemble gastirt, oder etwa wie einer, der im Strassenanzuge
unter costümirten Bühnenmenschen wandelt.

Vergleicht man das Deutsche Theater in Berlin, aus dem Kainz
kommt, mit dem, in welchem er jetzt in Wien wirken soll, so finden
wir dort in mässigen Abständen von einander eine von moderner Kunst
durchdrungene Schaar, die durch ihre organische Gliederung den
grossartigen Fähigkeiten eines Kainz doch nur Raum für eine harmo-
nische Entwicklung gestattete. Er hatte da stets nur für sich einzu-
stehen, aber nicht auch für alle anderen Rollen zu sorgen, damit sie durch
sein Licht erhellt werden. Wie die Sachen bei uns liegen, müsste er
in der Regel nicht nur seine Rolle spielen, sondern zugleich auch die
Mängel seiner Mitspieler verdecken. Er müsste damit das werden, was
seiner Natur und seinem bisherigen Entwicklungsgange widerspricht —
ein Star. Wir wollen aber keinen anderen Kainz als den, der er jetzt
ist und der er sein will; um nicht die Verantwortung auf uns zu laden,
ein so grosses schauspielerisches Genie in seiner natürlichen Entfaltung
gestört zu haben, darf Kainz nicht bloss ins Burgtheater engagirt werden,
vielmehr ist ein neues Burgtheater für ihn zu engagiren.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 880, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-23_n0880.html)