Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 881

Der Abgeordnete D’Annunzio (Vogüé, E. M. de)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 881

Text

DER ABGEORDNETE D’ANNUNZIO.
Von E. M. de Vogüé.
Uebersetzt von St. Gr.

Sollen die Schriftsteller ins politische Leben treten? Das ist das
strittige Thema einiger Publicisten, welche um die Hygiene des öffent-
lichen Lebens besorgt sind, anlässlich des Falles d’Annunzio. Ein
Florentiner Journal, »Il Marzocco«, richtete vor sechs Monaten eine
diesbezügliche Gewissensfrage an mich. Ich habe auf diese Frage nicht
antworten können, weil sie nicht ganz verständlich ist, bevor nicht
diese beiden schwankenden Begriffe definirt sind: Der Schriftsteller!
Die Politik!

Man müsste wahrlich einen unerhörten Classificationssinn haben,
um die Schriftsteller in eine specielle Gruppe einzuordnen oder an
ihnen so typische Züge zu entdecken, wie sie durch die Macht des
Berufes beim Priester, beim Beamten, beim Soldaten oder beim Arzt
geschaffen werden. Abgesehen von einigen ganz allgemeinen Zügen, der
Beobachtungs- und Erfindungsgabe, der Neigung zum Festhalten der
Impression durch das geschriebene Wort, einer angeborenen oder er-
worbenen Beweglichkeit in der Handhabung des Wortes, abgesehen von
diesen Allgemeinheiten, frage ich, wie viel Gemeinschaftliches es unter
diesen Menschen gibt, die so verschieden sind in ihrer Beschaffenheit,
in ihrem Geschmack, in ihren Fähigkeiten, im täglichen Verkehr des
Lebens! Welche Familienzüge kann man an Höflingen wie La Roche-
faucauld und Saint-Simon constatiren, an Schauspielern wie Molière und
Shakespeare, an Bischöfen wie Bossuet und Fénélon, an Soldaten wie
Vauvenarques und Vigny, an Diplomaten wie Joseph de Maistre und
Henry Beyle, an Professoren wie Cousin und Taine, an Frauen wie
Madame de Staël und George Sand, an Gelehrten wie Renan und
Littré, einem Bohémien wie Gérard de Naval, einem Maler wie Fro-
mentin, einem Bauern wie Mistral und einem Seemann wie Pierre
Loti? Welch wunderliches Verlangen, gemeinsame Regeln zu be-
anspruchen für Leute, die sich aus der unendlichen Verschiedenheit
der menschlichen Verhältnisse recrutiren! Ich weiss recht wohl, dass
eine ganz neue Systematik der Schriftsteller, gestützt auf die gerechte
Sorge um die materiellen Interessen, bestrebt ist, eine geschlossene
Corporation zu begründen. Die Schriftstellerei soll ein patentirter Beruf
werden, der von den anderen Berufen streng geschieden ist! Es würde
sich nun nur darum handeln, ob die Schriftstellerei hiebei gewinnt, ob
sie nicht in dieser unnatürlichen Specialisirung nach einer kurzen
Periode der Ueberproduction und des Glanzes an wesentlichem Gehalt
verlieren würde? Aber das führt uns zu weit.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 881, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-23_n0881.html)