Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 878

Josef Kainz im Burgtheater (Schik, F.)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 878

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JOSEF KAINZ IM BURGTHEATER.
Von F. Schik (Wien).

Die moderne deutsche Schauspielkunst fand zuerst in Berlin breiten
Boden, und ein Wiener, Josef Kainz, war ihr führender Geist. Seit Langem
gibt seine Spielweise dort den Ton an, seiner Entwicklung entwickelt
sich alles nach, und wohin er noch nicht vorgedrungen, gelangte auch
kein anderer. Nun kehrt er zu uns, seinen Landsleuten, zurück mit
einem weit höheren Kunstverständniss, als es hier im Allgemeinen zu finden.
Er kann von Glück sagen, dass die Kurzsichtigkeit unserer Theater-
directoren ihm geraume Zeit gönnte, fern von uns zuzubringen. Unsere
Stadt ist nicht mehr in der Lage, Menschendarstellern moderne Bildungs-
keime zuzuführen. Wir vermögen wohl gutes Menschenmaterial zu ex-
portiren, aber nicht seelisch und geistig zu ernähren und aufzuziehen.
Und nur diejenigen unserer Wiener Kinder überholen uns, die wir in
die Fremde stiessen. Ehemals war die Schule des Burgtheaters eine
Gewähr, dass aufstrebende Talente sich darin voll entwickeln und aus-
reifen konnten; heute ist diese Stätte eine Gefahr für Jeden, der, noch
unfertig, an sich selber zu arbeiten hat. So sehen wir neue Sterne
deutscher Schauspielkunst stets in Berlin aufgehen, ohne dass sie der
schon naiv gewordene Ehrgeiz plagte, »über eigenes Ansuchen«
ins Burgtheater zu kommen. Sie warten ruhig ab, bis man von dort
mit exceptionellen Anboten an sie herantritt. Der Ruhm der früheren
Wiener Theaterdirectoren, unentwickelte Talente zu entdecken, ist den
dermaligen Leitern nicht beschieden; sie engagiren die Leute erst, bis
sie gut und theuer geworden sind. Sie erkennen nicht die junge Blüthe,
erst die gereifte Frucht.

Kainz kommt als einer, der jünger als unsere jüngsten und älter
als unsere erfahrensten Darsteller erscheint. Er redet unüberlegt wahr,
in einem, instinctiv das Nebensächliche niederrennenden Tempo, stets in
jugendlicher Eile, und doch hat er alle Elemente der Rolle, die er
darstellt, unabhängig von ihr und bevor er an sie herantritt, in anderen
Verbindungen des wirklichen Lebens aus sich selbst geschöpft. Der
Aufruf seiner Erlebnisse durch das Werk des Dichters macht ihn erst
zum Schauspieler. So zeigt er an sich den Ursprung der reproduciren-
den Kunst. Unsere Gegenwart hat er hinter sich; er spielt in modernen
Stücken, man könnte sagen, zurück: aus der Zukunft in unsere Zeit
hinein. Im classischen Drama schleudert er die Worte so weit, bis sie
die correspondirenden Zustände unserer Tage treffen. Er regt damit
unsere Phantasie in so hohem Grade an, dass er nur wenig anzudeuten
braucht, um uns immer als der zu erscheinen, den er darzustellen hat.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 878, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-23_n0878.html)