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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 886

Text

KÖNIGE.
Münchener Stimmungen.
Von Vilma Robitsek (Wien).

Es ist traurig, wie stillos die meisten Menschen sind, wie stillos
sie leben. Besonders in Wien mag sich dieser Gedanke aufdrängen.
Hier empfindet man verschärft die Sehnsucht nach grösserer Eigenart
bei den Menschen, nach kraftvollerer Ursprünglichkeit, die sich in jedem
Gedanken, jeder Handlung ausdrückt, die ganze Lebensführung beein-
flusst. Gerade in Wien leben diejenigen Kreise alle nach einer Schablone,
sind wie aus einer grossen Presse hervorgegangen, die kraft ihres
Bildungsganges berufen wären, sich aus dem Banne der Banalität zu
befreien. Die guten Leute aber haben so viel mit ihren kleinlichen
Alltäglichkeiten zu thun, dass sie nicht hören, wie es rauscht, wie es
tönt da draussen über den Grenzen. Es dringt ja manches Neue zu
ihnen, manches Moderne: »Eine neue Art zu gehen, zu grüssen, ein
neues sportliches Spiel, ein neuer Tanz; beim Diner eine Abänderung
in der Reihenfolge des Menus, allenfalls ein neues Buch, das aber bei-
leibe nichts anderes sein darf als ein sensationeller Roman, und ab und
zu ein abgelegtes französisches Zotenstück oder eine englische Schauer-
komödie.«

Diejenigen aber, die das Leben ernster nehmen, stürzen sich In
das kleinliche Parteigetriebe des Tages und glauben damit genug
gethan zu haben. Und die Freidenker unter ihnen raffen sich auf zu
schmerzvollem Entschlüsse, vertheilen heroisch ihre heiligsten Gefühle
nach zwei Seiten (ich spreche immer von Wien), wählen hie social-
politisch, hie liberal und sind dann sehr erstaunt, wenn die schwarzen
Wolken am Himmel dichter geballt sind denn je, ganz dunkel, ultra-
schwarz und keine anbrechende Morgenröthe ihren Heroismus lohnt.

Freiheit! Morgenröthe! Damit meinen sie immer nur ihre spe-
cifische Wiener Freiheit, ihre Wiener Morgenröthe und bleiben unem-
pfänglich für den grossen freien Zug, der sich ja doch langsam Bahn
bricht, der Verkünder einer schönen grossen Menschlichkeit.

Wenn ihr Wienerthum mit seinen Ringmauern sie wohl ab-
schliesst von jeder frischen Luft, so wäre vielleicht zu erwarten, dass
sie sich in ihrer Absonderung zu einer starken Eigenart entwickeln
könnten und so der Mittelpunkt, die führende Kraft des Landes würden.
Doch nichts von alledem. Der fortwährende Wechsel der Parteien in
den letzten zwei Decennien, das Zuströmen schlechten Materials, die
Decentralisation, alles hinderte eine fortschreitende Entwicklung.

Es war kein Boden für die Production kräftiger Individualitäten.
Und so fehlen die Führer: Es fehlen Männer, Vollmenschen. Solche,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 886, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-23_n0886.html)