Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 891
Die Verbrecher in den decorativen Künsten (Ferri, Prof. Enrico)
Text
KÜNSTEN.
Von Professor Enrico Ferri (Fiesole).
Autorisirte Uebersetzung von Wilhelm Thal.
Die bedeutenderen Künstler haben stets die hervorragenden Cha-
raktere der Verbrechertypen erfasst. In der That hat sich die Kunst
niemals allzu weit von der Wirklichkeit entfernt. Sie hat sie sogar in
den Zeiten, da der asketische und philosophische Idealismus die Blicke
bis zum Delirium der fixen Idee in der Betrachtung einer subjectiven
Welt, dem idealen Reiche der Liebe und der Gerechtigkeit hypnotisirte,
nicht völlig verkannt.
Ganz kürzlich erst hat die Wissenschaft die Linien der physischen
und psychischen Physiognomie des Verbrechens präcisiren und vervoll-
ständigen können; doch ihre ausschlaggebendsten Beobachtungen, die
scheinbar verborgensten Wahrheiten sind von den Künstlern oft vor-
weggenommen worden.
So sind z. B. die Züge der maurischen Race von Bernini künst-
lerisch neu belebt worden durch die Statuen, die die »Fontana
Agonale« in Rom schmücken und von Tacca in den Mauern des dem
Erzherzog Ferdinand I. in Livorno errichteten Denkmals; doch diese
Meisterwerke der Sculptur besitzen nicht die photographische Genauig-
keit der Wissenschaft.
Ebenso anerkennt Charcot die Stigmate aus charakterischen Posen
der von schwerer Hysterie oder Hystero-Epilepsie befallenen Kranken
in den Missgestalteten und Besessenen der grossen Maler; z. B. in der
jungen Besessenen der Verklärung Christi von Raphael.1)
Die Kunst, dieser Augenblicksfunken des individuellen Genius,
und das Sprichwort, diese jahrhundertalte Ausströmung des Collectiv-
genius haben fast stets die Rechte der Wirklichkeit aufrecht erhalten.
In Bezug auf die Verbrecher und ihre psychologischen und physiolo-
gischen Charakteristika haben sie positive Grundlagen der Verirrungen
einer confusen Metaphystik entgegengesetzt, die sich in der Philosophie,
in der Pädagogik — in Theorie und Praxis — allzu lange und allzu
1) Charcot, les Sauvniaques dans l’art, Paris 1887. Siehe auch Tebaldi, Ver-
irrungen und Abweichungen der Physiognomie und des Ausdruckes, und als An-
hang: Ueber den Ausdruck des Wahnsinns in der Kunst, Padua 1884, und die
übrigen in meiner illustrirten Studie über die Physiognomie des Mörders citirten
Autoren (der Mörder in der criminalistischen Anthropologie) Turin, 1895, Ca-
pitel III.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 891, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-23_n0891.html)