Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 892
Die Verbrecher in den decorativen Künsten (Ferri, Prof. Enrico)
Text
vollständig von der materiellen Basis, die von der Kraft und Idee un-
zertrennlich ist, entfernt hat.1)
In zweiter Linie aber fällt, selbst in einer flüchtigen Uebersicht
des künstlerischen Museums der Verbrechertypen, ihr häufigeres Auf-
treten in den descriptiven Künsten, Literatur oder Drama — als in
den decorativen Künsten — Malerei und Sculptur auf.
Man kann behaupten, dass auf hundert Gemälde (und der Durch-
schnitt ist bei den Statuen noch geringer) nicht mehr als ein oder
zwei kommen, die einen Verbrecher als Hauptgegenstand oder als Figur
zweiten Ranges haben; während auf hundert Dramen oder Lustspiele
(bei den Romanen ist der Percentsatz noch grösser) nicht weniger
als neunzig entfallen, deren Fabel ein oder mehrere Verbrechen
enthält.
Man kann die verschiedenen Ursachen dieser Thatsachen auf
zwei Hauptgründe zurückfuhren. Der erste ist der, dass der Pinsel und
der Meissel sich weigern, einen so abstossenden Act, wie es das Ver-
brechen ist, zu verewigen, und ausserdem wählen unsere Künstler, die
gezwungen sind, sich nach dem Geschmack des Publicums oder
wenigstens nach dem ihrer Auftraggeber zu richten, Bilder- und Statuen-
stoffe, die geeignet sind, der Modedame, dem reichgewordenen Kauf-
mann oder der Vollblutaristokratie zu gefallen. Nun, das Bild des Ver-
brechens ist aus den eleganten Boudoirs und aus den fürstlichen Speise-
sälen verbannt, wo es das Lächeln bei den Liebesscharmützeln ver-
scheuchen und die bereits so schwer zu bewältigende Verdauung stören
könnte.
Nur die Museen bieten uns einige Beispiele dieser trüben Kunst;
es befindet sich im Louvre ein Gemälde Proudhon’s: »Der von der
Rache der Justiz verfolgte Mörder«, und das Museum Wiertz in Brüssel
besitzt die Werke eines genial und geistig gestörten Künstlers, der
Guillotinirte und Selbstmörder malte.
Und zweitens, wenn die Malerei, und mit noch grösserer Be-
rechtigung die Bildhauerei die Darstellung des Verbrechers vermeiden,
so kommt das daher, weil beide — besonders aber die Sculptur, wegen
der stets beschränkten Anzahl der modellirten Körper — nur einen
Moment aus dem Leben einer oder mehrerer Personen wiedergeben
können; die Augenblicksdauer des Ausdrucks widersetzt sich der
ästhetischen Darstellung des Verbrechens. Denn wenn es uns inter-
essirt und aufregt, so geschieht das besonders durch die schwankende
und eingehende Beschreibung verschiedener psychologischer Momente
des Vorbedachts, der indessen kein unfehlbares Symptom der grösseren
Verderbtheit ist, dagegen oft auch einen Widerstand des moralischen
Sinnes beweist zwischen der ersten Idee des Verbrechens und seinem
blutigen und betrügerischen Epilog. Dieser erste Gedanke kann plötz-
2) Lombroso, Das Verbrechen im Volksbewusstsein (Archiv der Psychiatrie,
III., 4), citirt viele Sprichwörter, Ausdrücke der jahrhundertelangen Erfahrung
über die Physiognomien; diese Sprichwörter stehen im Einklang mit den Angaben
der criminalistischen Anthropologie.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 892, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-23_n0892.html)