Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 893

Die Verbrecher in den decorativen Künsten (Ferri, Prof. Enrico)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 893

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VERBRECHER IN DEN DECORAT. KÜNSTEN. 893

lich in einem Gedankenblitz erstehen und dann langsam ein ganzes
Gewissen einnehmen und beschäftigen; er kann aber auch unter der
trügerischen Gestalt eines neuen Wunsches aus dem zweifelhaften Herde
eines erblichen Instinctes stammen, der von einem günstigen Milieu
gereift und entwickelt worden.

Die Analyse des Romans oder die Synthese des Dramas, kurz
und gut, die beschreibenden Künste, können uns allein diese Serie
von Seelenzuständen zeigen; darum sind die Verbrechertypen in den
decorativen Künsten seltener. Dennoch begegnet man ihnen auch hier
manchmal, und unter ihren charakteristischen Zügen ersieht man die
dem zerstreuten Auge des oberflächlichen Beobachters unsichtbaren
physiognomischen Merkmale. Diese Züge, diese Merkmale sind schwer
zu entdecken, daher leugnet sie die Menge auch noch immer aus
krankhafter Gewohnheit, trotz der positiven Behauptungen der kriminalisti-
schen Anthropologie. Doch dieselben sind dem Scharfsinne vieler Maler
und der traditionellen Beobachtung des Sprichwortes nicht entgangen,
dieser fast unbewussten und Jahrhunderte alten Enthüllung erst kürzlich
von der Wissenschaft erworbener Wahrheiten.

Ein ausgezeichneter Anthropolog, der junge Doctor Edouard
Lefort, hat sogar unter dem Titel: »Der Verbrechertypus nach den Ge-
lehrten und Künstlern« (Lyon 1892) eine Monographie veröffentlicht,
in der 109 Porträts figuriren, und der bereits eine Studie desselben
Genres vorangegangen war; »Ikonographie der Cäsaren« von Edmond
Mayor (Rom 1885).

Mayor hat bei allen Cäsaren eine anormale Entfernung der Augen
vom Beginn der Nase aus, bei den gewaltthätigsten unter ihnen — be-
sonders in den Physiognomien Caligulas und Neros — die Mehrzahl
der Merkmale des Verbrechertypus beobachtet.

Er beschreibt sie wie folgt: Caligula: Büste, alle schlechten In-
stinete vereinigend. Enormer, unsymmetrischer Kiefer. Henkelförmige
Ohren. Verzerrtes Gesicht, sardonischer und grausamer Ausdruck. Die
Oberlippe erhebt sich auf einer Seite wie bei einem zum Beissen sich
anschickenden Thiere. — Darwin hatte bereits als ein Zeichen des Atavismus
die über die Augenzähne hochgezogene Lippe bezeichnet, und ich habe
sie bei vielen Mördern entdeckt.

Büste des Nero in den Ufficien von Florenz: Wüster Ausdruck, die
Mundwinkel tief und herabfallend. Kein Mangel an Ebenmass. Die
Ohren sind leicht henkelförmig. Das Aussehen ist brutal, der Kiefer
riesig, ungeheuerlich.

Indessen ist die Statue zu derlei Nachforschungen und Unter-
suchungen nur schlecht geeignet; abgesehen von den griechischen
Köpfen der Furien und Medusen und des Kain von Dupré findet man
unter den modernen Werken fast gar keine Stoffe zu Studien. Denn
die Statuetten berüchtigter Verbrecher eines grossen Museums in London
und des Musée Grévin in Paris, das für alle Berühmtheiten der zeit-
genössischen Geschichte bestimmt ist, kann man nicht als wirkliche
Kunstgegenstände betrachten.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 893, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-23_n0893.html)