Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 894

Die Verbrecher in den decorativen Künsten (Ferri, Prof. Enrico)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 894

Text

894 FERRI.

Die Malerei bietet uns dagegen zahlreichere, und bedeutendere
Documente.

Herr Lefort bemerkt in der That in vielen Meisterwerken der
italienischen, vlämischen, spanischen und französischen Schule die
charakteristischen Züge des Verbrechertypus. Man findet ihre ab-
stossenden oder brutalen Physiognomien, ihren plumpen und stumpfen
Kopf, ihr ungleichmässiges Gesicht, ihre kleinen und boshaften Augen,
ihre niedrige Stirn, die geschweiften Augenbrauen und die hervor-
tretenden Backenknochen, die henkelförmigen oder spitzen Ohren, die
üppigen und harten Haare, den spärlichen oder fehlenden Bart in den
Gemälden, in denen gewaltthätige Menschen, Mörder, Henker, Ver-
dammte dargestellt sind. Die Legende von Kain und Abel z. B. oder
die von Judith und Holofernes, die Tödtung der unschuldigen Kindlein,
die Kreuzigung Christi, das Martyrium der ersten Christen, das letzte
Gericht, von dem des Orgagna auf dem Camposanto in Pisa bis zu
dem Michel-Angelo’s in der Sixtinischen Capelle bestätigen diese An-
gaben.

Die Gemälde Goya’s, eines spanischen Malers aus dem XVIII. Jahr-
hundert, zeigen häufig Räuber und Diebe, die der Strafe des »Garrots«
unterworfen wurden, des eisernen Ringes, der durch eine Schraube
zugeschnürt, den Hals des Verurtheilten einpresst und ihn in schreck-
licher Weise erdrosselt. Dieser Hinrichtungsmodus steht noch jetzt in
Spanien in Blüthe, wo er seit undenklichen Zeiten die Stelle der
französischen Guillotine, des englischen Galgen und des elektrischen
Stuhles der Nordamerikaner vertritt.

»Ein enthaupteter Brigant hat eine niedrige Stirn und scharf-
gezeichnete Augenränder. Die Augenlinien fallen fast vertical nach
unten, die Nase ist gerade, eingedrückt, das Kinn ist von dem sehr stark
entwickelten Unterkiefer nicht entfernt.« (Lefort, S. 64). Das sind fast
alle Merkmale des Mörders, wie ich sie mit Hilfe eines 36 Mörder-
photographien enthaltenden Atlas in meinem »Mörder« angegeben und
erläutert habe. (Turin, 1895, I. Theil, 3. Capitel.)

In Frankreich hat Proudhon (XVIII. Jahrhundert) die »Allegorie
der Justiz« gemalt, vor die man einen Verbrecher führt; doch der
untere Theil des Gesichtes des Mannes ist unter einem Mantel ver-
borgen. Proudhon ist auch der Schöpfer eines in diesem Werke bereits
genannten Gemäldes, das ich in einem Saal des Louvre gesehen: »Der
von der Rache der Justiz verfolgte Mörder.« Der Maler theilte augen-
scheinlich die so gewöhnliche Täuschung, dass er glaubte, der Mörder
werde von Gewissensbissen verfolgt; nun, die geborenen Verbrecher
und die Verbrecher aus Gewohnheit kennen dieses Gefühl nicht; die
zum bewussten Wahnsinn Neigenden und die Gelegenheitsverbrecher
spüren es kaum; nur die Verbrecher aus Leidenschaft empfinden es
stark, und darum tödten sie sich sehr häufig sofort nach der voll-
brachten Gewaltthat.

Doch der Künstler nähert sich der Wahrheit, wenn er den
Mörder darstellt. »Der Kopf ist im Dunkeln, nur von dem Scheine

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 894, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-23_n0894.html)