Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 895

Die Verbrecher in den decorativen Künsten (Ferri, Prof. Enrico)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 895

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VERBRECHER IN DEN DECORAT. KÜNSTEN. 895

der Fackel beleuchtet, die er in der Hand hält, plump und grob; die
Haare wirr. Das Gesicht ist kurz und breit, die Stirn niedrig, die Nase
dick, eingedrückt, nach links geneigt, die Lippen stark, die Kiefer,
besonders der untere, sind mächtig, und auf dem Kinn erblickt man
einige Haarbüschel.« (Lefort, S. 73.)

Frankreich besitzt noch andere Maler, die speciell die Verbrecher-
welt zum Vorwurfe ihrer Bilder wählen. Boilly hat Scenen aus dem
Räuberleben gemalt; Vernet, eine Begegnung der päpstlichen Dragoner
mit Briganten; Géricoult, den Kopf eines Hingerichteten, der gerade
durch seine genaue Wiedergabe der vorhergenannten, den Mördern
eigenthümlichen Anomalien berühmt geworden ist.

In dem berühmten Judaskuss von Ary Scheffer bemerkt man
einen beredten Contrast zwischen der etwas träumerischen und edel-
reinen Physiognomie Jesu und dem Gesichte des Verräthers, doch
dieser entfernt sich durch seine scharfgeschnittenen Züge, seinen
düsteren Blick, seinen tückischen Ausdruck gerade von dem mörde-
rischen und gewaltthätigen Typus, und sein Kopf ist eher der eines
Schwindlers, eines Betrügers. Ebenso ist auch der Hamlet von Delacroix
kein gewöhnlicher Verbrecher; er hat das unruhige und verstörte Ge-
sicht eines Wahnsinnigen.

In der ersten Hälfte des Jahrhunderts hat der Belgier Wiertz,
ein bis zum Delirium und bis zur Extravaganz bizarres Genie, mit ge-
wissenhafter Genauigkeit das Bild eines Briganten und Köpfe von Hin-
gerichteten gemalt, deren letzte Gedanken er mit weniger glücklicher
Kühnheit zu beschreiben versuchte. Mehrere Gemälde dieses be-
rühmten Künstlers, welche Selbstmörder darstellen, sind in den letzten
Entdeckungen und Anwendungen der criminalistischen Anthropologie
von Lombroso (Turin, 1893, S. 337/338) und in der sechsten Ausgabe
seines »Genialen Menschen« (Tafeln III und IV) als »menschliche Do-
cumente« reproducirt.

Während der letzten Zeit haben sich italienische Künstler unter
dem mehr oder weniger directen Einfluss der criminalistischen Anthro-
pologie mit der Darstellung Entarteter beschäftigt. Herr Rotta in
Venedig hat in seinen »Bagnosträflingen« eine lange Reihe angeketteter
Galeerensträflinge dargestellt. Ihre Kleidung lässt, indem sie die Einzel-
heiten der Costüme unterdrückt, die Physiognomien mit den verschie-
denen Ausdrücken, die sich aber an denselben Typus anschliessen,
noch schärfer hervortreten. Dieses Gemälde gibt getreulich das mora-
lische Leben der Verbrecher wieder.

Ein anderes Bild desselben Malers bietet uns eine ebenso wahre
Darstellung des Irrenlebens, es zeigt den Hof einer Anstalt, auf dem
harmlose Irre in den, ihren verschiedenen Geisteskrankheiten ange-
messenen Posen wiedergegeben sind.

So können wir also hinsichtlich der Verbrecher in den decora-
tiven Künsten mit Lefort den Schluss ziehen: Die Künstler aller Zeiten

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 895, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-23_n0895.html)