Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 896
Die Verbrecher in den decorativen Künsten (Ferri, Prof. Enrico)
Text
haben sich von der Idee leiten lassen, dass die Häuslichkeit des
Körpers mit einer Häuslichkeit der Seele übereinstimmen, und dass
der Verbrecher eine seltsame abstossende, Misstrauen einflössende Phy-
siognomie besitzen muss.
Die Maler der italienischen, vlämischen, spanischen und fran-
zösischen Schule sind auf empirischem Wege dazu gelangt, einen Typus
zu schaffen, dessen hauptsächliche Charaktere sind: das sehr breite
Gesicht bei einem gewöhnlich kleinen Schädel; die Stirne ist niedrig,
abgeplattet und nach unten durch die S-förmigen Augenbrauen begrenzt;
die Augen sind ungleichmässig, hervorstehend und rund, der Blick ist
hart, scharf oder glasig. Die dicken Wangen mit riesigen Backenknochen
lassen den Vorsprung der Nase verschwinden, die oft platt, haken-
förmig (wie der Schnabel der Raubvögel) und zur Seite gebogen ist.
Die riesigen Kiefer, die dicken, nach aussen gekehrten Lippen, das
sehr starke und viereckige Kinn, die henkelförmigen Ohren sind
schlecht geformt, nach oben spitz, das Ohrläppchen wenig abstehend
oder viereckig, die Haare üppig, keine Spuren von Bart.1)
Die Verbrecherköpfe, wie sie von Künstlern gezeichnet werden,
bieten alle eines oder mehrere dieser Merkmale.
So können wir also, wenn wir auf den wissenschaftlichen, von
der italienischen Schule geschilderten Typus des Verbrechers zurück-
kommen, ohne seine verschiedenartige Existenz bestreiten zu wollen,
die vollständige Analogie des künstlerischen Schaffens mehrerer Jahr-
hunderte mit der Auffassung des geborenen Verbrechers durch Professor
Lombroso feststellen.
1) Alle diese physiognomischen Merkmale sind von der criminalistischen
Anthropologie mit Ausnahme der dicken, nach aussen gekehrten Lippen bestätigt
worden, denn diese sind im Gegentheil fast stets bei den jähzornigen, feinen,
blassen und geraden Menschen vorhanden.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 896, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-23_n0896.html)