Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 897
Text
Von Arthur Dix.
Als der Meister des Völkerrechts vor 25 Jahren die zweite Auf-
lage seines bekannten Rechtsbuches in die Welt senden konnte, schrieb
er an Professor Franz Lieber in New-York in Hinblick auf den glück-
lich beendeten deutsch-französischen Krieg: 1)
»Wir wissen wohl, dass mit der neu erhobenen Stellung des
deutschen Volkes die Pflicht desselben gegen die Menschheit gewachsen
ist. Der barbarische Rassenhass ist uns fremd: wir erkennen es gerne
an, dass auch die französische Nation sich grosse Verdienste um die
Menschheit erworben hat und berufen ist, auch in der Zukunft wieder
Bedeutendes zu leisten. Wir würden es für keinen Fortschritt halten,
wenn wirklich, wie Manche besorgen, die französische Eitelkeit durch
den deutschen Hochmuth verdrängt und ersetzt würde, denn jene weib-
liche Eigenschaft ist doch liebenswürdig und weniger verletzend als
dieser männliche Fehler.
Die Mängel und die Schwächen des Völkerrechts sind aber in
diesem Kriege in erschreckendem Masse offenbar geworden. Oft hat
sich sogar bei Officieren beider Armeen und selbst in hohen Kreisen
und bei hochgebildeten Männern eine grauenhafte Unkenntniss des
Völkerrechts gezeigt. Es sind viele Missgriffe gemacht worden, die sich
nicht aus bösem Willen, auch nicht aus der rechtsverwirrenden Macht
des Hasses oder dem aufflammenden Zorne allein erklären lassen,
sondern sicher unterblieben wären, wenn die Kenntniss des Völker-
rechts allgemeiner verbreitet wäre.«
Manches hat sich in den 25 Jahren, seitdem diese Worte ge-
schrieben, gebessert, Vieles aber liegt auch noch heute sehr im Argen,
noch heute ist das Völkerrecht ein Schmerzenskind der Juristen und
Politiker, noch heute trifft man sogar häufig eine völlige Leugnung des
Völkerrechts wegen des Fehlens einer vollstreckenden Gewalt. Und
doch ist in unserer Zeit des ausgedehntesten internationalen Verkehrs
nichts wichtiger, als die rechtliche Grundlage des Verkehrs zwischen
den Völkern, das Völkerrecht im weitesten Sinne. Der Schutz des
Völkerrechts steht heute auf einer Stufe, die vor Jahrtausenden und
Jahrhunderten auch der Schutz des Privatrechts noch inne hatte; da-
mals »in der Jugendperiode der germanischen Völker und theilweise
noch im Mittelalter« war ebenso wie jetzt auch zuweilen den Völkern,
1) »Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staaten, als Rechtsbuch dar-
gestellt von Dr. J. C. Bluntschli.« Vorwort zur 2. Auflage, Heidelberg, 1. Oc-
tober 1872.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 897, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-23_n0897.html)