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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 898

Text

898 DIX.

wie Bluntschli1) schreibt, »die männliche Selbsthilfe eine gewöhnliche
Form der Rechtshilfe. Mit den Waffen in der Hand vertheidigte der
Eigenthümer den Frieden seines Hauses, der Gläubiger pfändete selber
die säumigen Schuldner, gegen den Friedensbrecher wurde die Familien-
und Blutrache geübt, der Rechtsstreit der Ritter und Städte wurde in
der Form der Fehde vollzogen. Sogar in die öffentlichen Gerichte
hinein trat die Waffengewalt, der Zweikampf war ein beliebtes Beweis-
mittel, und selbst der Urtheilsschelte wurde durch die Berufung auf
die Schwerter Nachdruck verliehen. Nur allmälig verdrängte die fried-
liche und zuverlässigere Gerichtshilfe die ältere Selbsthilfe. Es ist daher
nicht unnatürlich, wenn die Staaten, d. h. die derzeitigen alleinigen In-
haber, Träger und Garanten des Völkerrechts in ihren Rechtsstreiten
im Gefühle ihrer Selbstständigkeit und ihrer Rechtsmacht sich noch
heute vornehmlich selber zu helfen suchen.

«Indessen der Krieg ist doch nicht das einzige völkerrechtliche
Rechtsmittel. Es gibt daneben auch friedliche Mittel, dem Völkerrechte
Anerkennung und Schutz zu verschaffen. Die Erinnerungen und
Mahnungen, unter Umständen die Forderungen der neutralen Mächte,
die guten Dienste befreundeter Staaten, die Aeusserungen des diplo-
matischen Körpers, die Drohungen der Grossmächte, die Gefahren der
Coalitionen gegen den Friedensbrecher, die laute und starke Stimme
der öffentlichen Meinung gewähren der völkerrechtlichen Ordnung auch
einigen — freilich nicht immer einen ausreichenden — Schutz und
werden selten ungestraft missachtet. Zuweilen endlich werden völker-
rechtliche Schiedsgerichte gebildet, welche den Streit der Staaten auch
in wirklicher Rechtsform nach einem vorgängigen Processverfahren
entscheiden.«

So vollzieht sich im Verkehr zwischen den Völkern im Laufe
der Zeit dieselbe Wandlung von der gewaltsamen Selbsthilfe zu dem
geordneten Recht, wie einst im Verkehr zwischen den Privatpersonen.
Die friedliche Entscheidung wird im Streite zwischen den Völkern
immer häufiger. Die Regel der heutigen Welt ist nicht mehr der Krieg,
sondern der Friede. Im Frieden aber herrscht in den Beziehungen der
Staaten zueinander nicht die Gewalt, sondern das anerkannte Recht.
In dem friedlichen Verkehr der Staaten miteinander wird die Persön-
lichkeit und die Selbständigkeit des schwächsten Staates ebenso ge-
achtet wie die des mächtigsten. Das Völkerrecht regelt die Bedingungen,
die Formen, die Wirkungen dieses Verkehrs wesentlich für alle gleich,
für die Riesen wie für die Zwerge unter den Staaten. Jeder Versuch,
diese Grundsätze, gestützt auf die Uebermacht, willkürlich zu ver-
letzen, ruft einen Widerspruch und Widerstand hervor, welchen auch
der mächtigste Staat nicht ohne Gefahr und Schaden verachten darf.

Aber selbst in dem Ausnahmezustande des Krieges, in welchem
die physische Gewalt ihre mächtigste Wirkung äussert, werden dieser
Gewalt Schranken gesetzt, welche auch sie nicht überschreiten darf,


1) »Das moderne Völkerrecht«, S. 8.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 898, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-23_n0898.html)