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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 899

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ZWISCHEN DEN VÖLKERN. 899

ohne die Verdammung der civilisirten Welt auf sich zu laden. In nichts
mehr bewährt und zeigt sich die Macht und das Wachsthum des
Völkerrechtes herrlicher als darin, dass es vermocht hat, die spröde
Wildheit der Kriegsgewalt allmählig zu zähmen und selbst die zer-
störende Wuth des feindlichen Hasses durch Gesetze der Menschlich-
keit zu mässigen.

„Indem der Krieg die Kräfte der Völker und die Macht der
Verhältnisse im Grossen offenbart und zur Geltung bringt, bewährt er
sich als eine rechtbildende Autorität. Er ist nicht eine reine Form der
Rechtsbildung. Er ist nicht das Ideal der Menschheit, aber er ist heute
noch ein unentbehrliches Mittel für den nothwendigen Fortschritt der
Menschheit. — Die Vervollkommnung des Völkerrechts begleitet und
sichert die Vervollkommnung des Menschengeschlechtes.1)«

Während im Alterthum z. B. der Grieche jeden Nichthellenen
als absolut rechtlosen Barbaren betrachtete, während im Mittelalter das
auf religiöser Basis sich entwickelnde Völkerrecht nur die christlichen
Völker verband, gewährt das heutige, trotz aller grossen Mängel ver-
gleichsweise auf einer sehr hohen Stufe stehende Völkerrecht allen
Völkern gleiches Recht. Vor der gewaltigen Ausdehnung des Welt-
verkehres sind die Schranken gefallen; alle Nationen und Religionen,
sind in den grossen Kreis hineingezogen. Eine internationale rechtliche
Regelung des Eisenbahn- und Seeverkehrs, des Post- und Telegraphen-
verkehres wurde unausbleiblich, und ebenso wie das Recht des fried-
lichen Verkehrs hat das Kriegsrecht eine Ausbildung erfahren, die den
Krieg in der That von vielen Grausamkeiten befreit hat. Besonders
ist aber, wie schon bemerkt, die Zahl der Kriege vermindert, und
friedliche, schiedsrichterliche und ähnliche Vermittlungen in Streitfällen
häufiger geworden. Was zunächst noch die Grausamkeit der Kriege
anbetrifft, so mag, ganz abgesehen von den bekannten Thatsachen, auf
die weniger bekannte hingewiesen werden, dass trotz der ausser-
ordentlich gesteigerten Wirkung der heutigen Waffen keine Vermehrung
der Schlachtenverluste stattgefunden hat, sondern im Gegentheil eine
recht beträchtliche Verminderung2).

Was die schiedsrichterliche Vermittlung in Streitfällen zwischen
den Völkern anlangt, so sei daran erinnert, dass auf dem Pariser
Congresse von 1856 bereits die Mächte im Interesse des Friedens den
Wunsch zu Protokoll gaben, dass die Staaten, unter denen ein Streit
sich erhebe, nicht sofort zu den Waffen greifen, sondern zuvor die guten
Dienste einer befreundeten Macht anrufen möchten, um den Streit zu
schlichten. Man weiss, wie zahlreich inzwischen die Vorschläge ge-
wesen, die auf die Errichtung von Schiedsgerichten und allgemeinen
Congressen hinzielen. Auch Bluntschli hat an diesem Wettkampf der


1) Bluntschli, 3. Aufl., S. 10—12.

2) Vergl. darüber u. a.: „Zur Psychologie des grossen Krieges“, III. Theil:
„Statistik und Psyche“ von C. von B. K. (Wien und Leipzig, Wilhelm Brau-
müller.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 899, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-23_n0899.html)