Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 890

Text

890 ROBITSEK.

So wird er im Herzen des Volkes weiterleben, mit ihm ein Hauch
und Schimmer von Romantik, nach der wir Alle uns stets zurücksehnen,
wie nach den süssen Sangesweisen, die uns in der Jugendzeit erklungen.
Für Musik ist König Ludwig immer empfänglich gewesen, er liebte es,
sich an Tönen zu berauschen. In weihevoller Andacht, in erhobener
Einsamkeit lauschte er den Werken Richard Wagner’s, des Meisters, den
er am höchsten verehrte. Tiefe Finsterniss und Stille umgaben ihn
dann. So sah er auf der Bühne die leuchtenden Bilder an sich vorüber-
gleiten, und seine Seele badete in den brausenden Klangfluthen. Und
seine Königin nahte sich ihm — Königin Stimmung.

Die Leise und doch so Gewaltige, die wahre Herrscherin über
uns arme fin de siècle-Menschen. Die Tochter der Nervosität und des
Schönheitssinnes, dieses Zwitterkind mit den herrlichsten und tückischesten
Gaben, im Gewände. Die uns aufjubeln lässt im wonnigsten Entzücken
und dann wieder ihre bleifarbenen, lähmenden Schleier auf unsere
Schaffenskraft niedersenkt, bis wir endlich unterliegen nach aufreibenden
Kämpfen.

Gerhart Hauptmann gibt uns in »Einsame Menschen« einen
solchen Kämpfenden in feinster Seelenmalerei wieder, so ganz vom
Geiste der Zeit durchweht. Wir wohnten einer Aufführung im »Deutschen
Theater« bei. In uns vibrirte jeder Nerv, wir bebten, wir litten mit
Johannes Vockerath, der in seinem kraftlosen Ringen, seinem nichts
erreichenden Wollen, seinen seelischen Schmerzen uns erschien wie
Fleisch von unserem Fleische, Blut von unserem Blute! Und in ver-
stärkter Kraft erwacht die Sehnsucht nach einer neuen, grossen Zeit,
nach grossen Menschen voll eigener Art und eigener Kraft — lauter
Königen — die helfen sollen, die Zukunft besser, freier, schöner zu
gestalten.

Johannes Vockerath ist todt. Er musste zugrunde gehen. Lang-
sam fällt der Vorhang, ganz langsam, wie eine zögernde Frage. Vor
unserer Seele taucht das Bild des Mannes auf, der im Verborgenen
die Schnüre lenkt. Wohl ein stämmiger Arbeiter im blauen Kittel.
Und doch lenkt er seine Schnüre, als fragte er mit, als fühlte er mit
in unserer nach neuen Zielen strebenden Zeit. Sind er und seine Ge-
nossen vielleicht berufen, neuen Saft und neue Kraft in die Mensch-
heit zu bringen? Sollen aus ihren Kreisen jene vollen Menschen treten,
die den Andern voranschreiten auf ihrem Wege zum Licht?


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 890, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-23_n0890.html)