Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 885

Der Abgeordnete D’Annunzio (Vogüé, E. M. de)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 885

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DER ABGEORDNETE D’ANNUNZIO. 885

mit Erinnerungen an die Erntefeste des alten Latium, mit einer Fluth
erhabener Gedanken und mächtiger Perioden. Denken Sie sich Herrn
Sully Prudhomme, der im Thal von Cantal oder von Corèze auf
Stimmenfang geht, indem er den Landarbeitern sein schönes Gedicht
von der Gerechtigkeit commentirt. Herr d’Annunzio hat zu 2000
Wählern, zu was für Wählern! gesprochen, Bauern in den Abbruzzen!
Sie haben ihn angehört, sie haben ihm Beifall geklatscht und, was das
weitaus Merkwürdigste, sie haben ihn angenommen. Für Jeden, der
jemals den Wahlkampf gekostet hat, übertrifft die Wunderthat von
Ortona jene des Orpheus, der die wilden Thiere den Klängen seiner
Leier gehorchen lehrte.

Wird sich dieses Wunder auf dem Montecitore wiederholen? Es
gehört eine starke Zuversicht dazu, um daran zu glauben. Das Ueber-
raschendste wirkt oft auf eine Masse uncomplicirter Menschen. Halb
bestürzt, halb entzückt lassen sie sich forttragen von diesen breiten
Wogen der Beredsamkeit. Willenlos geben sie sich dem Zauberer hin,
der in einer unbekannten Sprache zu ihnen spricht. Aber im Parlament!
So weit ich die Leute von Montecitorio kenne, unterscheiden sie sich
nicht viel von den unserigen. Hier übrigens, wie überall, machen Leiden-
schaften und persönliche Interessen die Politik. Einige Augenblicke wird
man der Curiosität halber, der Stimme des Auguren lauschen. Hernach
wird man auf das parlamentarische Terrain herabsteigen, wo das ge-
ringste Panamino weit besser das Geschäft der Leidenschaften und
Interessen besorgt.

Aber entmuthigen wir den Dichter nicht und vor Allem spotten
wir nicht über ihn, der ein wenig Schönheit in Dinge tragen will, von
denen sie am weitesten verbannt ist. Unser aller Wohlthäter würde er,
wenn es ihm glückte! Wir würden gerne, wie es unsere Väter gethan,
die Berge erklimmen, um aus der reinen Quelle dieser Bezauberung zu
schöpfen. Möge ihm der Erfolg und der Muth treu bleiben, dem Depu-
tirten der Schönheit, der Willensstärke! Er wird Muth brauchen in
seiner Einsamkeit inmitten der Parteien, er wird dort an das Wort des
alten Huxley denken können: »Ich habe gefunden, dass eine der un-
verzeihlichsten Sünden in den Augen der Mehrheit der Menschen die
That eines Mannes ist, der den Muth hat, sich in die Menge zu wagen,
ohne eine sichtbare Etiquette zu tragen. Solche Leute betrachtet die
Welt wie die Polizei einen Hund, der unüberwacht und ohne Marke
herumläuft.«

Das Wort hat in aller Welt Giltigkeit; besonders in dieser parla-
mentarischen Welt, wo man es stets verstanden hat, sehr stark zu
bellen, während man immer den Maulkorb trägt.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 885, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-23_n0885.html)