Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 884
Der Abgeordnete D’Annunzio (Vogüé, E. M. de)
Text
Das ist ein Titel, welcher bei uns sehr schwer zu tragen wäre.
Der Gesetzgeber, welcher es wagen würde sich so zu vermummen,
würde dem muselmännischen Deputaten in den Revuen der Theater
nachfolgen. Ein Vergleich wird verstehen lassen, wie d’Annunzio
sein Mandat auffasst. Angenommen — die Hypothese hat nichts Un-
wahrscheinliches — der Engländer Ruskin bewerbe sich im englischen
Hause der Gemeinen um ein Mandat, um seinen ästhetischen Kreuz-
zug zu fördern. Er wurde dieser Religion der Schönheit dienen, welche
er sein Lebenlang in seinen Büchern, in seiner unermüdlichen Propa-
ganda durch alle Werkstätten, alle Hütten gepredigt hat. Das Parla-
ment würde ihm in England, wo jeder originale und aufrichtige Ver-
such sein Publicum findet, ernstlich anhören.
Was Ruskin im englischen Parlament thun würde, das möchte
d’Annunzio in Montecitorio vollführen. Er hält dafür, dass Italien
seine erhabensten Traditionen verleugnet, dass es die wahrhaftigen Ur-
gründe seiner Stärke, besonders seiner politischen, verkennt, sobald es
den Sinn für die Schönheit verliert. Niemand kann ihm hierin wider-
sprechen. Die These ist leicht zu verfechten, selbst von ökonomischen
Gesichtspunkten aus, in einem Lande, das noch heute seinen glänzendsten
Reichthum aus der allgemeinen Wallfahrt zu seinen werthvollsten Kunst-
schätzen schöpft. Mit jener ruhigen und sanften Art, die er auch bei seinen
ärgsten Kühnheiten beobachtet, und mit einer von blumigen Phrasen
verhüllten, scharfen Entschiedenheit hat der Deputirte von Francovilla
seinen Wählern im Wesentlichen Folgendes gesagt: »Ich werde meine
Collegen als das bezeichnen, was sie sind: Philister, plumpe Miss-
versteher der Traditionen unserer Race; dass sie das dritte Rom den
beiden anderen nicht gleich an Schönheit und Erhabenheit zu gestalten
wussten; und dass ihnen nichts zu thun übrig bleibt als abzutreten
vom Plan, wenn sie nicht die heroische und schönheitstrunkene Seele
des Cinquecento wiederfinden.«
Im Verlaufe seiner Wahlcampagne ist sich der Candidat mit stolzer
Unerschütterlichkeit treu geblieben. Man müsste vom ersten bis zum
letzten Wort seine ausserordentliche Rede von Ortona wiedergeben.
Unsere professionellen Politiker blieben starr in staunendem Unver-
ständniss. Nicht ein Wort staatlicher oder localer Politik, nicht das
kleinste Versprechen, nicht das geringste Scherzwort über die Gegner,
ein Hymnus auf die Schönheit, auf die Willensstärke, auf den geheimen
Geist der Race.
»Nicht mein Wort allein vernehmt Ihr; das Echo eines Chores
ist es, den Ihr nicht hört und den doch Eure eigenen geheimsten
Stimmen bilden. Ihr habt Eure offenbarte Wesenheit vor Euch! Ihr
glaubt, dass ich Alles umbilde in meiner Kunst, da ich doch nichts
Anderes thue als dem Genius gehorchen, dem Ihr Alle unterworfen
seid! Ihr glaubt mich Eurem Wesen unähnlich, da ich Euch doch
ähnele wie ein geläuterter Bruder «
So geht die Rede fort, mit Bruchstücken des Georgica in Prosa,
mit Hymnen auf die Landarbeit, mit Citaten aus Platon und Hesiod,
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 884, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-23_n0884.html)