Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 883

Der Abgeordnete D’Annunzio (Vogüé, E. M. de)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 883

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DER ABGEORDNETE D’ANNUNZIO. 883

Erleuchtungen der einsamen Reflexion wieder, noch den harmonischen
Schwung der geschriebenen Phrase. Jedermann weiss, dass er auf der
Tribüne stotterte. Die wenigen Worte, die er aussprach, fügen der
Wirkung nichts hinzu, die er durch seine Werke, durch die Verve
eines ausgezeichneten Journalisten auf seine Zeitgenossen ausübte.

Kommen wir auf Gabriel d’Annunzio zurück! Ich glaube sehr,
er ist in diesen neuen Versuch durch den unersättlichen Dämon ge-
trieben worden, der in ihm arbeitet, durch das wüthende Bedürfniss,
alles zu kennen! alles zu erproben! alles zu fühlen! um schliesslich in
seinen Werken das ganze Leben, wie er es erlebt hat, wiederzugeben.
Ich glaube, dass er sich der lebhaften Anziehung überliess, welche die
grossen Figuren der italienischen Renaissance auf ihn ausübten. In
dem heissen Bemühen, die enklykopädische Thätigkeit eines Leonard
wiederzuerwecken, sagte er sich, dass auch die politischen Kämpfe
diesen vielseitig Erhabenen nicht gleichgiltig liessen.

Er bringt übrigens eine sehr bestimmte Idee, sein ganzes Pro-
gramm, in diese Kämpfe. Im guten Glauben an die gedrängten Nach-
richten, hat man ihn als einen conservativen Führer, als Antisocialisten,
als ich weiss nicht was noch, dargestellt. Man wollte ihn in
unsere gewöhnliche Terminologie einzwängen. Die Lectüre seiner Wahl-
manifeste und einiger vertraulicher Mittheilungen gestatten mir, die
Dinge auf ihre Richtigkeit zurückzuführen. Jemand, der ihn um seine
politische Gesinnung befragt, bekam als Antwort einige Worte aus den
»Vierges aux Rochers« d’Annunzio’s: »Cantelmo hat keine Meinung«.
Wenn man in ihn gedrungen wäre, stelle ich mir vor, dass er ebenso
kurz angebunden geredet hätte wie der Director eines grossen ameri-
kanischen Journals, der eines Abends seine Projecte für eine Pariser
Ausgabe seines Blattes entwickelte. Ein Parlamentarier, der dem linken
Centrum oder dem rechten Centrum oder allen beiden angehörte,
unterbrach ihn:

»Sie sprechen gar nicht von der politischen Färbung Ihres
Blattes.«

Der Amerikaner rollte die verwunderten Augen:

»Politische Färbung? Dummheiten! Informationen! Thatsachen!
Reclamen!! Politische Färbung? Dummheiten!«

Und als ein anderer furchtsam beharrte:

»Indess, Sie werden doch eine Richtung «

»Richtung? Dummheiten! Dummheiten!« heulte der Mann der
neuen Welt. D’Annunzio richtet unsere Schlagworte wie jener Amerikaner,
aber mit einem ganz anderen Ideal: Sein Glaubensbekenntniss ist nur
die Entwicklung jener ästhetischen und philosophischen Theorien, die
d’Annunzio im ersten Theil der »Vierges aux Rochers« verkündet. Er
hat es gesagt und geschrieben, in allen Schriften, und oftmals wieder-
holt: er will der Deputirte der Schönheit sein!

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 883, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-23_n0883.html)