Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 882
Der Abgeordnete D’Annunzio (Vogüé, E. M. de)
Text
Fügen wir übrigens hinzu, dass die bildenden Schriftsteller, die
Poeten und Romanciers heute eine deutliche Gruppe bilden, eine be-
stimmte Gattung, welche bestimmten Entwicklungsgesetzen unterworfen
ist. Es bliebe also noch übrig, sich über die Worte »in’s politische
Leben treten« Rechenschaft zu geben. Derselbe Geist der Systematik,
welcher die Literaten in eine Kaste einpferchen will, mit seiner Un-
verträglichkeit und Herrschsucht, hat aus der Antheilnahme an den
öffentlichen Affairen eine bestimmte Laufbahn geschaffen. Der unglück-
liche Glaube, dass die Politik eine Sache für sich ist, ein Werkzeug
der Herrschaft und des Vermögens, hat unser Denken so tief ver-
dorben, dass man sogar die Zusammensetzung der Motive prüft, welche
einen Schriftsteller mit dem politischen Leben verbinden könnten.
Einige werfen sich auf die Politik mit dem heftigen und un-
sicheren Ehrgeiz des reinen Politikers. Andere werden zur Politik ge-
drängt durch eine hübsche Rednergabe, deren Verwerthung sie un-
ruhig erwarten. Die Apostel verfolgen in der Politik den Triumph
einer Idee, die sie auch mit der Feder vertheidigen. Dieser wieder,
ein Geschichtsforscher oder ein Dilettant, verlangt in’s Parlament,
weil er dort, neugierig auf alle menschlichen Hoffnungen, neue
Studien machen will. Jener hier, eine Beamtenseele, sucht die Be-
friedigung einer persönlichen Beziehung, etwas Gleichwerthiges wie die
Stellung, die seine Collegen im Staatsdienst oder in einem industriellen
Unternehmen gefunden haben. Andere schliesslich erfüllen so ihre
socialen Pflichten. Sie leisten einen öffentlichen Dienst, indem sie an
irgend einem vergessenen Flecken der Erde ein altes Familienrecht
ausübend fortsetzen und ihre Anhänger gegen diese wilden und
niedrigen Tyranneien der Demokratie vertheidigen. Sie vollziehen diese
Pflicht ohne Ehrgeiz und Freude — ich kann davon reden — so
wie man bei Gericht sitzt, wenn man zum Geschworenen gewählt ist.
Schriftsteller oder nicht, es gibt jedenfalls so wunderliche Franzosen,
welche diese Ausübung eines öffentlichen Dienstes im Auge behalten.
Lamartine, ein politischer Prophet, ein glänzender Redner, wurde
fünfzehn Jahre lang mit dem verächtlichsten Lachen der Versamm-
lungen empfangen. Schliesslich schlug seine Stunde und verwirklichte
seinen ganzen Traum. Man kann über die Nützlichkeit seiner Hand-
lung streiten, man kann deren Macht verkennen; aber sein Wort ver-
jagte eine Monarchie, in der er sich langweilte, es hielt ein Volk,
welchem es schwindelig geworden war, im Zaum, es schuf aus dem
Dichtertribunen den Eintagsgötzen dieses Volkes. Bei diesem Menschen
löste die Politik eine latente schöne Kraft aus.
Chateaubriand hatte durchdringende und weitschauende historische
Intuitionen. Manche Seiten seiner Broschüren und seiner Memoiren
zeugen hievon. Sein Hass und sein Zorn waren ihm leuchtende
Fackeln, in ihrem Licht sah er seine Welt zusammenstürzen. Im Drange
der täglichen Geschäfte und in der Pairskammer, fand er weder diese
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 882, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-23_n0882.html)