Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 930

Henry George (Zenker, Ernst Victor)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 930

Text

930 ZENKER.

socialistischen Orthodoxie in Deutschland eine gefahrvolle Concurrenz
machen zu wollen. In England und Deutschland bildeten sich eigene
Gesellschaften, welche sich die Verwirklichung der in »Progress and
Poverty« niedergelegten Ideen zur Aufgabe machten, hier der »Bund
für Bodenbesitzreform«, dort die einfluss- und mitgliederreiche »English
Land Restoration League«, welche eine förmliche »Henry George
Compaign« mit grossen Mitteln ins Werk setzt und ihr eigenes Organ
in dem »Christian Socialist« besitzt. Die amerikanischen Freunde des
Reformers suchten vor einigen Jahren bereits dessen Wahl zum Stadt-
oberhaupte von New-York durchzusetzen und sahen den Mann ihrer
Hoffnung im Geiste sogar schon auf Uncle Sams ehrwürdigem Präsi-
dentenstuhle. Der Versuch schlug fehl, und es ist wenig Hoffnung vor-
handen, dass diesmal die Candidatur mehr Erfolg haben wird, umso-
mehr, als er der Candidat einer geschlagenen Partei ist. Zudem hat
sich in den letzten Jahren die übermässige Gluthhitze des Henry George-
Cultes einigermassen abgekühlt; radicalere Vorschläge verdrängen in
den tieferen Gesellschaftslagen die massvollen Ideen des Amerikaners;
aber gerade in jenen Schichten, wo weder die drängende Noth, noch
die politische Mandatsjägerei, sondern ein redlicher, wenn auch nicht
immer ganz erleuchteter Wille ein wahres Interesse an den Leiden der
kämpfenden Classen in Brand erhält, gerade in diesen Kreisen gewinnt
Henry George eher noch an Anhang; so hörten wir erst vor einigen
Tagen, dass nun auch in Oesterreich-Ungarn eine eifrige Propaganda
für seine Ideen entfaltet werden soll. Jedenfalls wird aber die Ge-
schichte der socialen Ideen und Bewegungen für alle Zeiten seinen
Namen unter denen der führenden Geister aufbewahren.

Die Grundformel, auf welche Henry George alle anderen zurück-
führt, mittelst welcher er alle Probleme des socialen Lebens löst, klingt
am meisten an das einst vielgenannte »Land und Freiheit« der Nihilisten
an. Nach der alten physiokratischen Lehre, der er noch anhängt, ist
für ihn die Wiege aller Güter der Boden. »Wie jedes Gut in letzter
Analysis das Ergebniss von Boden und Arbeit, so ist jede Production
in letzter Analysis Verbrauch von Arbeit auf dem Boden.« Aller Fort-
schritt rührt von der gesteigerten Ausbeute des Bodens her, alle Armuth
davon, dass diese Quelle jeglichen Segens, von einigen Wenigen an-
geeignet, für die grosse Mehrzahl der Menschen verstopft ist, die sich
daher mît einem ewig um das Mindestmass der unumgänglichen Lebens-
bedürfnisse schwankenden Lohn für ihre Arbeit begnügen müssen. Das
Land, die Allmuter Erde, auch wirklich Allen frei zugänglich zu
machen, darin erblickt Henry George also das einzige Mittel, um alle
Ungerechtigkeiten und Härten der heutigen Gütervertheilung zu be-
seitigen, um alles sociale Elend auszutilgen, um Fortschritt und allge-
meines Wohlbefinden in die ersehnte Harmonie zu bringen. Jedoch
fordert Henry George zu diesem Zwecke nicht eine brutale Expro-
priirung der heutigen Besitzer oder eine etwaige Neuauftheilung von
Grund und Boden. Nichts von Communismus, und man möchte fast
sagen, nichts von Radicalismus liegt in der von Henry George vor-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 930, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-24_n0930.html)