Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 931

Henry George (Zenker, Ernst Victor)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 931

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HENRY GEORGE. 931

geschlagenen Massregel, welche eher einen bureaukratischen und fis-
calischen Zug verräth. Nach Henry George ist es nicht die individuelle
Aneignung von Grund und Boden an sich, was die crasse Ungleichheit
der Gütervertheilung verursacht, sondern die Prämie, welche sich der
»Eroberer« für seinen Besitztitel zahlen lässt, die Rente. Sie ist es,
welche in unbändiger Expansivkraft den Zins vom Capital so gut
wie den Lohn für die Arbeit drückt und sich beständig auf Kosten
Beider zu vergrössern strebt. Die Gesellschaft braucht also Niemanden
von der Scholle zu vertreiben, die er bebaut, Niemandem das Haus zu
nehmen, das er sein Eigen nennt; kein Stäubchen von den Früchten
seiner Arbeit braucht ihm entzogen zu werden; die Gesellschaft braucht
nur die Rente für sich in Anspruch zu nehmen, indem sie dieselbe
durch eine Steuer vollständig an sich zieht, förmlich aufsaugt, indem
sie dem socialen Körper das Gift aus der Wunde zieht, um es mit
weiser Hand in heilsame Arzenei zu verwandeln. Denn diese eine
Steuer wird hinreichen, alle anderen überflüssig zu machen und einen
unversiegbaren Segen über die Gesellschaft auszugiessen — so hofft
wenigstens Henry George.

Diese Grundgedanken können keineswegs originell genannt werden,
und auch Henry George’s eifrigste Verehrer wissen ganz genau, dass in
der Originalität seine Stärke nicht liegt. Die Idee, das complicirte System
von Steuern und Abgaben durch eine einzige Grundsteuer (impôt unique
single tax) zu ersetzen, geht auf keinen Geringeren als auf den be-
deutendsten Finanzpolitiker des vorigen Jahrhunderts, auf Turgot, zurück.
Das berühmte Conventsmitglied Thomas Payne, der Verfasser des
Buches »Die Menschenrechte«, eignete sich die Idee Turgot’s an und
verquickte mit derselben das Turgot so verhasste Progressivsystem, so
dass er zu einer progressiven Rentensteuer gelangte; dieselbe sollte aber
nicht bloss fiscalische, sondern ausschliesslich socialpolitische Tendenzen
verfolgen, indem Payne durch dieselben einerseits die Vererbung grosser
Vermögen und vor Allem die Anhäufung grosser Ländereien in einer
Hand unmöglich machen, andererseits aber dem Staate dadurch die
Mittel an die Hand geben wollte, womit er seinen Pflichten gegen die
Armen und Schwachen gerecht werden könnte. Zwei Zeitgenossen des
berühmten Revolutionsmannes, beide Schotten, können sich mit Payne
in den Anspruch theilen, Vorläufer Henry George’s gewesen zu sein.
Der eine war William Ogilvie, Professor am Kings College in Aberdeen,
dessen 1782 erschienenes »Essay on the right of property in Land«
die Verehrer Henry George’s selbst als »an Schärfe der Analyse und
Bestimmtheit der Sprache offenbar dem Werke ‚Progress and Poverty‘
überlegen« nennen, Mehr aber noch kommt Thomas Spence (1750 bis
1814), eines Netzmachers Sohn aus Newcastle on Tyne als Vorläufer
George’s in Betracht. Er war ein Selfmade man, dessen Lebensweg
keineswegs mit Rosen bestreut war und in reizloser Abwechslung aus
der schmutzigen Netzmacherwerkstätte seines Vaters durch eine kleine
Schreibstube, in der er als Clerk diente, durch eine erbärmliche Schul-
meisterei seines Heimatsortes in einen unansehnlichen Bücherkram

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 931, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-24_n0931.html)