Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 938
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in annähernd gleichem Masse zu erringen wäre. Auch Schmoller er-
örtert gelegentlich die Idee eines europäischen Zollbundes,1) und zwar
hält er es für wünschenswerth und für möglich, dass für die Zeit nach
Ablauf der Handelsverträge ein europäischer Zollbund mit freiem Ge-
treidehandel im Innern und Schutzzoll gegen Amerika sich bilde, der
möglichst alle mitteleuropäischen Staaten umschliessen müsse. In diesem
Getreidezollbunde liege natürlich die Vorbereitung eines mitteleuropäi-
schen Zollvereines überhaupt, von dem bis zu den »Vereinigten« oder
wenigstens »Verbündeten Staaten von Europa« in der That nur ein
Schritt ist — ein Schritt, der auf anderem als wirthschaftlichem Wege
unmöglich erscheint. Namen wie v. Philippovich und besonders Gustav
Schmoller bürgen dafür, dass wir es in diesen Fragen nicht nur mit
Phantastereien und Utopien zu thun haben, sondern dass diese Ideen
durchaus im Bereiche ernster wissenschaftlicher Erwägung liegen. Wie
sollten sie es auch nicht angesichts der grossen Interessengemeinschaften
der europäischen Culturvölker in Wirthschaft und Verkehr, und ange-
sichts der grossen Gefahr, die ihnen im fernen Westen und im fernen
Osten durch Entziehung des Marktes und gleichzeitig durch Ueber-
schwemmung des eigenen Marktes fortgesetzt droht.
Dem Kriege entgehen wir nicht. Wenn die Menschen einander
nicht schlachten, dann hungern sie einander aus. Zwischen den europäi-
schen Grossmächten schwebt seit geraumer Zeit etwas wie ein ge-
heimer Vertrag in der Luft, einander nicht zu schlachten. Weshalb
wollen sie nicht auch einen offenen Vertrag schliessen, einander nicht
auszuhungern, sondern zusammenzustehen, wie Schmoller es z. B. fordert,
gegen den gemeinsamen wirthschaftlichen Feind jenseits des Oceans,
in dessen Macht es liegt, sie wirthschaftlich zu tödten. Amerika ist
ein wahrhaft modernes Land — ein Wirthschaftsland; es braucht keine
Waffen zu seinen Siegen. Will Europa ihm die Spitze bieten, dann
muss es ihm gleich werden, muss auf dieselbe historische Stufe steigen.
Das ist nicht möglich, so lange die einzelnen Staaten sich unausgesetzt
kriegerisch bedrohen; es ist nur möglich, wenn sie, unter voller Wahrung
ihrer Selbständigkeit, wirthschaftlich zusammenstehen als ein Ganzes.
Die civilisirte Welt ist auf der Stufe angelangt, auf der eine jahr-
hunderte- und jahrtausendelange Entwickelung sie hinführen musste; die
civilisirten Völker sind in erster Linie nicht für den Krieg, sondern
für die Wirthschaft organisirt; im Reiche der Waffen bildet der Friede
die Regel; die Kriege sind an Zahl vermindert, an Wirkung gemildert.
Auf wirthschaftlichem Gebiete aber herrscht ein ununterbrochener
schwerer Kampf, innerhalb der einzelnen Völker sowohl wie zwischen
den Völkern. Wo zwischen den Völkern Friede herrschen soll, da ist
die wirtschaftliche Annäherung die erste und einzig sichere Grund-
lage. Auch der in den letzten Jahrzehnten so häufig erörterte Zusammen-
schluss der Mehrzahl der europäischen Staaten kann zur Zeit der
1) »Ueber die Epochen der Getreidehandelsverfassung und -Politik,«
Schmoller’s Jahrbuch, XX, Jahrgang, Heft 3.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 938, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-24_n0938.html)