Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 940

Ein Kainz-Ensemble (Schik, F.)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 940

Text

EIN KAINZ-ENSEMBLE.
Von F. Schik (Wien).

Die Situation im Burgtheater lässt sich kurz kennzeichnen: Man
wartet auf Kainz. Schon sein flüchtiges Erscheinen hat aber so tiefe
Spuren zurückgelassen, dass die Parole nunmehr heissen sollte: Man
bereite sich auf Kainz vor! Ein tonangebendes Theater darf nicht nur
deshalb einen allerersten Künstler heranziehen, um das Publicum ins
Haus zu locken; es müssen vielmehr sofort Anstalten getroffen werden,
ein auf ihn gestimmtes, einheitliches Ensemble zu schaffen. Ein so ge-
artetes, dass selbst in einem Stücke, in welchem Kainz nicht mitspielt,
sein Geist zu verspüren ist.

Hier ereignet sich der seltene Fall, dass die Entwicklung eines
Schauspielers parallel läuft mit der modernen Schauspielkunst überhaupt. Das
jünglingsartige Wesen Josef Kainz’ haftet nur scheinbar seiner Person an,
vielmehr steht die moderne Darstellungsweise selbst im Jünglingsalter und hält
ihn darin fest. Die alte Spielmanier hat ein Jahrhundert etwa gebraucht
bis zur höchsten Vollendung. Die sich ihr widmeten, waren daher
stets jünger als die Kunst, der sie dienten, und bedurften einer langen
Lehrzeit, um auf das von Anderen hergestellte Niveau zu gelangen.
Erst dann konnten sie am Fortschritt der Kunst schöpferisch mitwirken.
Kainz hat nichts von dem, was vor ihm war. Er ist ein Schauspieler,
der nur in sich schauen muss, wenn er das Echte ergründen will. Das-
jenige, was er in sich erschaut, spielt er. Darin besteht seine Schau-
spielkunst. So war er als Hamlet und in jeder der von ihm hier
gegebenen Rollen. Dieser Vorgang ist das Bindende in seiner Kunst.
Der Hamlet muss nicht etwa immer genau so gespielt werden, wie
durch Kainz. Ein moderner Nachfolger kann ihn anders spielen. Kunst
ist Freiheit. Nur darin besteht der Zwang, dass ein moderner Schau-
spieler nie etwas Anderes zur Schau stellen darf, als was in ihm
selber ist. Er darf sich nicht verstellen. Die bisherige Schauspielerei
war vorwiegend eine Verwandlungskunst; »er ist nicht zu erkennen«,
ein hohes Lob. Weder darin, noch auch in der blossen Ich-Kunst
besteht das Neue, sondern in einer innerlichen Verbindung beider
Spielarten. Die Verwandlungen, die das Ich innerhalb ein und der-
selben Individualität in organischen, nicht gezwungenen Uebergängen
erfahren kann und erfahren hat, sind das, was als Natürlichkeit in der
Schauspielkunst zu bezeichnen ist. Nur die auf die Rolle eingeschränkten
Veränderungen des Inneren werden als das erscheinen, was wir heute
Maske nennen. Das Gesicht des Schauspielers muss durch seine eigenen
seelischen Erlebnisse derart geprägt sein, dass sie alle gleichzeitig, aber
in Ruhe darin liegen; durch den jeweiligen innerlichen Vorgang wird

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 940, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-24_n0940.html)