Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 941

Ein Kainz-Ensemble (Schik, F.)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 941

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EIN KAINZ-ENSEMBLE. 941

die correspondirende Miene von selbst erleuchtet, ohne dass es erst
eines Mienenspieles bedürfte in dem Sinne, wie man dies heute ver-
steht. Darum kann die moderne Bühne nur mehr Individualitäten brauchen,
Menschen, die, wie sie sind, sich auf die Bühne stellen können und
doch jeder Dichter-Intention entsprechen.

Ein Ensemble muss heute daraufhin zusammengestellt werden,
dass jede Individualität vertreten ist, die dem Leben unserer Zeit Kenn-
farben verleiht. Mit solchen Schauspielern wird ein Bühnenleiter von
künstlerischer Divinationsgabe classische Stücke zu besetzen haben. Mit
feinem Verständnisse wird er herausfinden, welche dieser modernen
Menschen die Fortsetzung ihrer classischen Vorfahren sind. Die be-
treffenden Darsteller werden sich aus sich selbst die entsprechende
Anzahl von Generationen zurückzuentwickeln haben. Sie müssen ihre
geistigen Vorfahren in sich wittern. So wird die natürliche clas-
sische Spielweise entstehen. Das bis jetzt herrschende Fachsystem ist
schon deshalb ein Nonsens, weil, was vor Jahrhunderten etwa ein
Liebhaber gewesen, durch die Wandlungen der Zeitauffassung nun die
Ingredienzien für einen Bösewicht enthält.

Alle hervorragenden Charaktere von ehemals, die ihren Zeitgenossen
Grundfarbe verliehen haben, sind in das All aufgegangen und in jetzt
lebenden Menschen in anderen Verbindungen vorhanden. Durch künstle-
rische Analyse wird der ursprüngliche Grundcharakter classischer.
Dichtergestalten herauszufinden sein. So ist in den Kainz’schen Lieb-
habern so viel Diabolisches vorhanden, was im vorigen Jahrhundert allein
schon einen Franz Moor, einen Wurm ausmachte, und nun Kainz befähigt,
auch diese Rollen zu spielen. Die Liebe hat heute einen bösen Zug, den sie
früher nicht hatte (»Nora«, »Rosmersholm«, »Baumeister Solness«, »Klein:
Eyolf«, »Einsame Menschen«, »Versunkene Glocke«: durchwegs Kainz-
Rollen enthaltend).

Die Personen in den classischen Dichterschöpfungen liegen nicht
festgelegt im Buche. Sie wachsen und entwickeln sich, wie es Individuen
thäten, wenn sie ewig lebten. Die Dimensionen einer solchen Figur
gehen aber trotzdem nie ins Riesenhafte oder auch nur Ueberlebens-
grösse. Denn ebensoviel, wie ihnen neu zuwächst, fällt Verdorrtes von
ihnen ab. Sie leben sich in jeder Epoche völlig aus, sterben und
bleiben doch als ihr eigener Nachkomme zurück. Der Hamlet, den Shake-
speare auf die Bühne stellte, lebt längst nicht mehr, er ist der Ahnherr
unseres jetzigen.

Während nun der moderne Dichter eben nur Neues schafft,
kommt für den modernen Schauspieler noch hinzu, Werke früherer
Literaturperioden zu erneuern. Er wird diese in den Gesichtswinkel
zu rücken haben, unter welchem das Auge der Jetztzeit innere und
äussere Vorgänge betrachtet. Auch längst Geschehenes steht nie fest,
sondern ist den Veränderungen, die in den Zurückblickenden vor sich
gehen, unterworfen. Kainz hat an den fünf Abenden, an denen er im
Burgtheater erschien, in Stücken aus verschiedenen Zeitaltern und von
verschiedenem Literaturwerthe gespielt, und immer wurde klar, in

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 941, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-24_n0941.html)