Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 942

Ein Kainz-Ensemble (Schik, F.)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 942

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942 SCHIK.

welchem Lebensmomente der betreffenden Gestalt die moderne Dar-
stellungskunst einzusetzen hat. Kainz spielt aus allen Stücken nur das
heraus, was die heutige Menschheit mitfühlt. Alles Andere spielt er
als todte Stellen. Gerade hiedurch aber wird unser Interesse auch an
diesen wacherhalten; es fällt ihm nicht ein, ihnen künstliches Leben
einflössen zu wollen, eine Weise, die man bisher übte, um dem Dichter
»gerecht« zu werden. So arbeitet Kainz die Berührungspunkte ver-
schiedener Zeitalter heraus« Er tritt an classische Stücke frisch heran;
als wären sie erst heute, an moderne, als wären sie schon vor Zeiten
geschrieben. So erscheinen uns durch ihn die Classiker modern, die
modernen Werke als schon Gewohntes. Alles, was er anfasst, wird uns
verwandt. Es fehlen ihm eben die alten, uns schon befremdenden Requi-
siten des Komödianten. Der arme Mann! Er muss sich ohne diese
»behelfen«.

Die verschiedensten Charaktere, die Kainz vorführt, bringt er
in gleiche Nähe zu uns und zu einander, weil er das allgemein
Menschliche in ihnen allen in erster Linie fixirt und erst dann mit
wenigen sicheren Strichen sie als Individuen einschränkt. Er gibt
ein volles, lebendiges Bild, aber wenig Text. Wer ein Stück liest, be-
nöthigt mehr Aufklärungen vom Schriftsteller, als wer es dargestellt
sieht. Kainz löst den Text in Spiel auf; unsere Darsteller spielen
pedantisch den Text. Wenn Kainz auf der Scene, hat man den Ein-
druck einer Stegreifkomödie. Viele Worte geben bei ihm ein Wort;
dieses besteht nicht aus Buchstaben, sondern aus vielen Sätzen, die er
zusammen nimmt. Er creirt eine neue Bühnensprache. Die Stunde der
langsamen Bühnenbummler, der breiten Sprecher, die vom Anfang der
Sätze bis zu ihrem Ende schlendern, hat geschlagen. Die Zeit des
Bühnenmüssigganges auf offener Scene ist vorüber.

Unsere Stadt ist auch innerlich alt geworden, und alle äusserlichen
Mittel, dies hintanzuhalten, fruchten nichts. Das Gehirntempo ist ein
schleppendes. Nun kommt ein Wiener aus der Fremde zurück, der auf
diejenigen Nerven wirkt, die hier so lange in Unthätigkeit waren, und
der trotz seiner langen Abwesenheit von seiner Vaterstadt nichts uns
Fremdes mitbringt, nur die Fähigkeiten, die bei uns seit Langem
brachliegen, an sich entwickelt hat. Er arbeitete für uns, während
wir nichts thaten, und ist nun imstande, unser Versäumniss wett zu
machen, indem er uns hilft, rasch wieder auf das Gleiche zu kommen.

Ein fünfabendliches Gastspiel und ebensoviele Durchfälle — des
Burgtheaters. Durch einen Landsmann besiegt! Eine solche Niederlage
wirkt nicht lähmend, sie stachelt die Energie an, ihm eine würdige Um-
gebung zu schaffen.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 942, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-24_n0942.html)