Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 16
Text
als schuldig zu betrachten Die ungeheuere Tragik besteht darin,
dass die Regierungen über Völker regieren, die mit jedem Tage und
jeder Stunde mehr und mehr vom Geiste der Lehren Christi durch-
drungen werden Die Regierungen thaten das Ihrige, aber auch die
christliche Lehre that das Ihre, indem sie immer tiefer und tiefer in
die Herzen der Menschen eindrang. Und nun ist die Zeit gekommen,
wo die Arbeit des Christenthums diejenige der Regierungen überholt,
weil das Werk des Christenthums Gottes Werk und das der Regierung
Menschenwerk ist Was geschieht nun aber, wenn auch die Molo-
kanen, die Itundisten, die Schaloputen, die Geissler etc. dem Beispiele
der Duchoborzen folgen?
Was dann, wenn das Peinigen nicht das gewünschte Resultat
erzielt, wenn die Gepeinigten nur noch mehr ermuthigt werden, die
Wahrheit zu bekennen, und wenn immer grössere Massen sich ver-
anlasst fühlen, ihrem Beispiel zu folgen? Es gibt keinerlei Spitzfindig-
keiten, durch die man die Handlungsweise dieser Leute schlecht oder
unchristlich nennen könnte. Es genügt nicht, ihnen Beifall zu zollen,
man muss Begeisterung für sie empfinden, weil man zugeben muss,
dass Leute, die so handeln, wie sie es thun, es im Namen alles dessen
thun, was die menschliche Seele am tiefsten bewegt Noch nie und
nirgends hat eine Verfolgung unschuldiger Menschen stattgefunden,
ohne dass ein Theil der Verfolger zu den Ueberzeugungeu der Ver-
folgten übergegangen wäre Je toleranter der Staat die Leute be-
handelt, die das wahre Christenthum bekennen, desto schneller wird
sich die Zahl der Personen vermindern, die dem Staate dienen. Auf
jeden Fall, ob er tolerant oder grausam ist, er arbeitet stets nur auf
seine Vernichtung hin Wahrheit wird nie aufhören, Wahrheit zu
sein, wenn auch unter dem Druck von Martern die Menschen lauer in
ihrem Glauben werden. Gottes Werk muss Menschenwerk besiegen.
»Was aber geschieht dann, wenn der Staat vernichtet ist?« höre ich
die Anhänger der Macht fragen, die da glauben, dass Alles untergeht,
wenn das, was augenblicklich besteht, nicht mehr vorhanden ist. Die
Antwort auf diese Frage wird immer die gleiche sein: »Das wird ge-
schehen, was geschehen muss, was Gott wohlgefällig ist, was mit den
von ihm in unseren Herzen und in unserem Verstand gelegten Gesetze
im Einklang steht Geht der Staat zugrunde, so ist das nur ein
Beweis, dass die Sache, die der Staat verficht, Gottes Geboten zuwider
und ein Uebel ist, folglich auch zugrunde gehen kann Nur noch
eine kleine Anstrengung — und der Galiläer hat gesiegt. Sein Sieg
wird nicht den fürchterlichen Sinn haben, den ihm ein heidnischer
Herrscher zuschrieb, sondern den von ihm selbst angedeuteten, wahren
Sinn: »In der Welt habet ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die
Welt überwunden.« Auch nicht jenen mystischen Sinn, den die Theo-
logen diesen Worten beilegen, wird sein Sieg haben, sondern den ein-
fachen, klaren, einem Jeden verständlichen Sinn, dass, wenn wir muthig
und männlich seine Gesetze befolgen, die Verfolgungen der wahren
Jünger Christi bald aufhören, Gefängnisse, Richtstätten, Krieg und
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 16, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-01_n0016.html)