Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 17

Graf Leo Tolstoi und die Duchoborzen (Henckel, W.)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 17

Text

LEO TOLSTOJ UND DIE DUCHOBORZEN. 17

Zwietracht aus der Welt verschwinden müssen; es wird dann auch
keine Ueppigkeit, keinen Müssiggang und keine von der Last erdrückte
Armuth mehr geben, unter denen die christliche Welt jetzt stöhnt.

Leo Tolstoj

Der Bericht über die Duchoborzen, den Leo Tolstoj in seinem
letzten Schreiben an die Petersburger Zeitung so dringend empfiehlt,
rührt von einen Herrn Boulanger her. Dieser schreibt u. A. Folgendes:

Gegen 4000 Duchoborzen wurden gezwungen, binnen wenigen Tagen
ihre Dörfer zu verlassen, und einzeln unter die kaukasischen Bergvölker
vertheilt. Man verbot ihnen sogar, mit einander zu verkehren. Trotz
ihrer elenden Lage gelang es ihnen, die Liebe und Achtung ihrer
Nachbarn zu erwerben, obschon sich diese anfangs sehr misstrauisch
verhielten und die Sectirer als Räuber betrachteten. Die Duchoborzen
arbeiteten für die Armen umsonst und theilten mit ihnen das bischen
Geld, was sie noch besassen. Man hatte ihnen weder Land noch
Wohnungen gegeben; sie mussten in ihren Gepäckwagen campiren oder
in Erdhütten wohnen, die sie sich errichteten. Ihre Existenzmittel gingen
auf die Neige, verdienen konnten sie fast gar nichts, da sie ihre Wohn-
orte nicht verlassen durften. Schliesslich wurde Alles, was sie noch
übrig hatten, in eine gemeinsame Casse gethan, aus der sie ihre sämmt-
lichen Bedürfnisse bestritten. Da dies ihre letzte Ressource war, so
mussten sie sich mit einer Nahrung begnügen, die gerade noch hin-
reichte, um nicht Hungers zu sterben. Durch diese ungenügende Nahrung,
das ungewohnte Klima — sie kamen aus einer rauhen Gegend in eine
heisse — die gesundheitsschädlichen Wohnungsverhältnisse — es mussten
oft zwanzig und mehr Menschen in einer elenden Erdhütte zusammen-
gepfercht liegen — entwickelten sich Krankheiten. Der Correspondent
erzählt, dass, als er einst eine solche Erdhütte betrat, er entsetzt über
die dort herrschende Atmosphäre und erstaunt über die stieren Blicke
war, mit denen man ihn betrachtete. Später erfuhr er, dass ihn die
Armen gar nicht gesehen hatten, denn sie litten fast alle an der Hühner-
blindheit (hemarolopia). Viele waren fieberkrank, andere hatten eine
ruhrartige Krankheit und lagen im Sterben. Ihre Speise bestand aus
Brot, Wasser und Salz, zuweilen kamen noch Kohl und Kartoffeln
hinzu. Herr Boulanger fand, dass von 1886 Menschen 748 — also
40 Percent — mit ansteckenden Krankheiten behaftet waren, abgesehen
von den Fieberkranken, deren Zahl gegen 90 Percent betrug. Das
grösste Contingent stellten die Erwachsenen, also die Arbeitsfähigen,
von denen 62 Percent krank waren.

Nachdem ich meinen ersten Brief veröffentlicht hatte — schreibt
Herr Boulanger — erhielt ich viele mündliche und schriftliche An-
fragen; Aerzte boten mir ihre unentgeltlichen Dienste an, verlangten
aber den Ersatz ihrer Reisekosten und den Unterhalt an Ort und
Stelle. Ich wusste, dass die Duchoborzen nur noch 2000 Rubel übrig
hatten, mit den sie ihren Unterhalt bestreiten mussten und die kaum
für einen halben Monat ausreichen konnten, ich musste daher diese
Hilfe ablehnen. Auf Arbeit und Verdienst war fast gar nicht zu rechnen,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 17, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-01_n0017.html)