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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 49

Text

DE AMORE. 49

Geliebte Lügnerin, die du mich leitest zu Höhen, um mich zu
deinen Höhen nur herabzuleiten! Ver-Führerin! Ich hasse dich.

Ah, melde mir den Tag, da ich dich nicht mehr liebe — — — —
dann will ich Abschied nehmen — — von meinem Hasse!!

Ich liebe dich.

Sie: »Wie werden Blätter gelb?!«

Er: »Das grüne Chlorophyll des Blattes verwandelt sich in Gelb-
stoff, Xantophyll, unter dem Einflüsse der Kälte.«

Sie: »Wie werden Blätter roth?!«

Er: »Das grüne Chlorophyll des Blattes verwandelt sich in Roth-
stoff, Erythrophyll.«

Sie: »Und schwarz?!«

Er: »Das ist das Sterben des Blattes. Wenn es nicht mehr Kraft
hat, Farben umzuwandeln, wird es schwarz.«

Sie: »Und Blätter werden Erde?!«

Er: »Ja, der Schnee zermürbt sie, präparirt sie vor.«

Sie: »Lehre mich Botanik. Aber nicht wie in der Jugend, wie
viele Staubgefässe jede Blume hat, wie sie lateinisch heisst, wo man
sie findet. Lehre mich das Tiefe, wie sie wird und stirbt und niemals
aufbegehrt und wieder wird und stirbt und wieder stirbt und dann
doch auflebt — — —.«

Er: »Anatomie, Physiologie der Pflanzen?!«

Sie: »Ja, das.«

Er: »So komm’. Es ist zu kalt zum Sitzen im Freien. Und wir
sind in Jahren — — —. Wir brennen Holz im Ofen, und ich lehre
dich, wie junge Stämme ihren Ring ansetzen. Vor Allem, weisst du,
wenn im ersten Frühjahr — — —.«

Und sie ging schweigend, lauschend neben ihm.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 49, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-02_n0049.html)