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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 155

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ZUR BURGTHEATERKRISE. 155

Styles verspricht für die Auswahl der aufzuführenden Stücke eine sichere
Richtschnur abzugeben und auf gleichsam mechanischem Wege Alles
abzustossen, was unter die Schwelle des Zeitinteresses gesunken und,
mit modernen Darstellungsmitteln angefasst, unwillkürlich in Caricatur
sich verwandeln würde.

Da das Burgtheater in Folge der in Wien bereits bestehenden
und sich weiter noch vermehrenden Entlastungstheater immer mehr
auf sein eigentliches Gebiet, die Pflege der Classiker, sich einzuschränken
haben wird, so erscheint die Regenerirung der classischen Spielweise
als Hauptaufgabe. Die Darstellung der Classiker regulirt sich stets
vom letzten Entwicklungsstadium der Schauspielkunst aus. Wir ver-
stehen die Gedankenwelt der Römer und Griechen nur dann voll und
ganz, wenn sie in die richtige Perspective für den Zeitblick gebracht
wird. Um ein Kunstwerk so zu erfassen, wie es der Dichter erfasst
hat, besitzt jede Zeit andere Behelfe. Würden die Goethe’schen oder
gar die Shakespeare’schen Stücke heute noch so gespielt werden, wie
es diesen Dichtern zu ihrer Zeit entsprach, so würde uns das Ver-
ständniss hiefür verloren gehen. Wir verlangen die Interpretation, die
der Dichter verlangen würde, wenn er heute lebte.

Es kann also die organische Entwicklung eines einheitlichen
Neustyls nur von der planmässigen Förderung der modernen, künst-
lerisch abgeklärten Production und von der Rückwirkung dieser auf
die Darstellung des Classischen erwartet werden. Die Schauspieler er-
halten neue Zeitentwicklungsfarben für ihre Palette, was ihnen für die
Regenerirung einer überkommenen classischen Spielweise unentbehrlich
ist. Erst eine solche Vorführung der Classiker wird auch wieder auf
die moderne literarische Production einwirken und die jetzt ver-
schleierte Continuität des menschlichen Kunstgeistes aufscheinen lassen.
Das wüste Durcheinander, womit seit Jahren eine unsichere Directions-
hand die Spielzeit des Burgtheaters ausfüllte, hat eine noch nie da-
gewesene Stylverheerung angerichtet.

Das Burgtheater hat ungefähr 300 Spielabende im Jahre. 70 im
deutschen Repertoire befindliche Stücke von Shakespeare, Schiller,
Goethe, Lessing, Grillparzer, Kleist, Hebbel, je an nur drei Abenden
gespielt, würden mehr als zwei Drittel des Jahres füllen. Blieben also
circa 100 Abende für die moderne Literatur. Damit wäre auch die
äusserliche Richtschnur für die Repertoirebildung gegeben.

Nicht willkürlich oder von kleinlichen Zufälligkeiten dictirt darf
die Anordnung der Stücke sein. Die architektonische Gliederung des
Repertoirebaues wird die modernen Werke so zwischen den classischen
gruppirt erblicken lassen, dass die Wechselwirkung verschiedener
Literaturperioden deutlich wird. Es wird also die Reihenfolge der
classischen Stücke von der modernen Production dictirt werden und
nicht etwa von den Kosten der decorativen Ausstattung, welche die
Markirungsgrenze kaum zu überschreiten hat. Eine Ausstattung, die
der Pracht der Gedankenkunst von Geistesheroen gleichkäme, ist ja

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 155, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0155.html)