Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 156
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überhaupt nicht zu beschaffen, und der Prunk ist in den neuen Zeit-
prämissen auch nicht mehr begründet. Nichts soll von der Kunst ab-
lenken, weder Dürftigkeit noch Pracht.
Bezüglich der Neuengagements von Schauspielern darf das Burg-
theater kein Versuchstheater sein und hat sich vor vagen Experimenten
sorgfältig zu hüten. Weil die moderne Schauspielkunst sich haupt-
sächlich auf die innere Entwicklung stützt, so ist es nicht am Platze,
dass kaum den Kinderschuhen Entwachsene hier vorgeführt werden.
Der Massstab für ein modernes Talent kann erst zu einer Zeit angelegt
werden, wo in dem Talente Individualitätsvorgänge wahrnehmbar sind. Es ist
ganz verkehrt, die schlummernden Kräfte des Talents durch die Er-
regungen, die in einer Rolle liegen, künstlich aufzustacheln. Das Seelen-
leben darf nicht gewaltsam deflorirt werden. Hiezu kommt noch, dass,
wenn die Grossstadt unreife Talente aufnimmt, sie dieselben der Provinz
entzieht, von woher sie schauspielerischen Nachwuchs von Qualität
beziehen soll. Hiedurch wird der dramatische Kreislauf gestört und
die bedeutsame Aufgabe der Provinzbühnen, eine schauspielerische
Mittelschule zu sein, illusorisch gemacht.
Von einem Extrem verfiel Burckhard immer gleich in das ent-
gegengesetzte. Er erkannte immer erst das ausgereifte Talent eines
neu anzuwerbenden Schauspielers an der Höhe der Gage, die andere
Directoren diesem zahlten, und an den materiellen Opfern, die dessen
Abgewinnung für das Burgtheater erheischte.
Wer neue Schauspieler einerseits anwirbt, bevor noch ein Talent
im modernen Sinne erkennbar, andererseits erst bis dieses schon
jedem Laien ins Auge strahlt, von dem muss man gewärtig sein,
dass er auch an seinem Theater in Engagement stehende Schauspieler
nicht richtig schätzen wird. In der That wimmelte es im Burgtheater
von falschen Besetzungen, und der Unmuth darüber gab dem Cliquen-
wesen neue Nahrung. Dass aber unter allen Umständen in einem
Institut von der Stabilität des Burgtheaters, wo das Princip be-
steht, hervorragende Schauspieler bis zur künstlerischen Neige sich
ausleben zu lassen, die Darsteller zu einflussreichen Factoren werden,
ist in der Natur der Dinge gelegen. Es ist nichts Neues, dass das Theater-
völkchen eine eigenartige Welt für sich bildet, die wie die übrige Welt
nur durch diplomatische Künste zusammengehalten und regiert werden
kann. Decretiren zu wollen, es dürfe keine Schauspielercliquen geben,
wäre ebenso läppisch, wie wenn man verbieten wollte, dass sich politische
Parteien bilden. Damit muss eben ein Theatermann von vorneherein
rechnen. Desgleichen mit der Hoftheatercensur. Diese ist übrigens unleug-
bar in dem Masse liberaler geworden, als die modernen literarischen
Producte mehr die inneren Seelenvorgänge von Menschen aufzeigen,
die im engen Kreise, ohne viel äussere Bewegung, noch weit entfernt
sind von staatserschütternden Handlungsconsequenzen. Einer Directions-
führung, die in dieser Richtung der modernen Literatur dienstbar
wird, werden wenig Hindernisse in den Weg gelegt werden. Die echte
Kunst wird nur dann in Mitleidenschaft gezogen, wenn ein Burg-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 156, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0156.html)