Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 192

Jung-Münchens Kunst (Strindberg, Frieda)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 192

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192 STRINDBERG.

— die alten Kathedralen zum Geflüster heimlicher Liebe und ehr-
würdige Hallen, die an Klostermauern mahnen, sind weiter nichts, als
die Schenke, in der man das frisch schäumendste Bier kredenzt.

Warum auch nicht?

Heben sich die alten Bögen weniger stolz und frei vom blauen
Himmel ab? Sind die Stumpfnäschen nicht hübsch und lebensfroh?
Füllt die alten Kathedralen nicht just der Hauch des Süssbangen, Ge-
heimnissvollen, der über einer jungen Liebe schwebt? Hatin München
nicht Alles Styl?

Und die holden Mädels! Was sind sie lasterhaft, aber nicht
schlecht. Nie oder selten wenigstens sündigen sie wider ihre bessere
Ueberzeugung. Freilich ist diese Ueberzeugung meistens die, dass das
Leben zum gelebt werden da sei, die Jugend zur Freude, der Tag
zum Genuss, ja, dass man, wird derselbe allzu kurz, ihm auch noch
die Nacht zur Hilfe beigesellt. Sie sind sehr vorurtheilslos, diese
Münchener Kinder — leichtsinnig wie die Wienerinnen und gar nicht
sentimental. Aber sie sind gut. Denn sie verlangen für ihre Liebe nie
etwas, als wieder Liebe. Und sie freuen viele Herzen. Nicht nur die
Herzen derer, denen sie das ihre schenken, nein, eines Jeden, der sie sieht.
Sie sind so frisch, hübsch und gesund. Wenn sie dann ausgetobt, dann
werden sie auch gute Mütter frischer, hübscher und gesunder Kinder.

Das Münchener Volk kennt keinerlei Bedenken der Moral und
Convention. Hebt man nur ein wenig den Mantel, den die Wohl-
erzogenheit des Bürgerthums darüber gebreitet hat, empor, so staunt
man allerdings; wie kam nur dieser Schandfleck ins reine, deutsche
Reich! Mahnt es nicht schier an ein kleines, gesund gebliebenes Paris?
An ein Paris, das nur einen Tyrannen duldet, vergöttert, den künstleri-
schen Geschmack? Die Kunst, wir wiederholen es, ist Sache der warmen
Sinne und des Genies, das nichts anderes ist als ein Instinct. Ver-
stand und Urtheil müssen sie leiten, lenken. Schaffen können sie sie
nie. Nur hindern, wo sie ihr die Unbefangenheit zu rauben suchen.

In München ist dies nicht der Fall. Das Talent der Leute geht
da viel weiter als ihr Verstand. Vor Allem ihr Talent zu Allem, was
das Leben in sich schliesst. München, das die erste Heimstätte war,
die sich Wagner bot, in dem zuerst das Schlagwort »Realismus«,
»Naturalismus« ausgestossen wurde, das Ibsen, den noch Unberühmten
herbergte, Stuck, Uhde, Slevogt, die ganze moderne Malerrichtung
grosszog und jetzt eine neue Kunstgattung in Wort und Bild in seinen
beiden Zeitungsunternehmungen »Simplicissimus« und »Jugend« fördert,
hat im Grunde genommen stets nur eine Kunst besessen, die Kunst
zu leben
, sich auszuleben, frei und rückhaltslos nach jeder Richtung
hin. Das führt viel Anderes mit sich, viele werthvolle Züge. Und jeder
dieser Züge, der Charakterzüge der Stadt, hat ihrer Kunst
geholfen, das zu werden, was sie ist.

Die Liebe zum Leben, wie sie München ausströmt, ist stark
und sinnlich. Auch ist sie wahr, verabscheut jede Lüge, die sich ihr
entgegenstellt, ob sie nun Ideal genannt wird oder Convention. Dann

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 192, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-05_n0192.html)