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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 202

Text

202 GEMBERG.

Der Inspector hatte einen Jahresgehalt von zwölfhundert Thalern,
immerhin einen Tagesverdienst von zehn Mark, um den ihn mancher
Aermere gewiss beneidete. Aber er hatte eine grosse Familie, sechs
Kinder, und vor einem Jahre war ihm im Krankenhause die Gattin
gestorben.

Er wusste ganz genau, dass ihn zu Hause das Elend erwartete.
Ihn, durch dessen Hände soeben eine Million in Gold geglitten war!
Wie sonderbar das doch eingerichtet war, dass er an dieses Geld
keine, aber gar keine Ansprüche hatte! Er konnte keine Rolle, er
konnte nicht ein Stück verschwinden lassen. Jeder Möglichkeit war
durch die Controle der Menschen, durch die Genauigkeit der Ma-
schinen vorgebeugt.

Wenn er aber das Gold hätte, dann sollte das einmal anders
werden mit diesem elenden Leben!

Die älteste zwanzigjährige Tochter war viel zu egoistisch, um
die Stelle der Mutter zu vertreten, um Vater und Geschwistern das
Haus zu versehen. Sie war zur Bühne gegangen. Ohne eine künstlerische
Ausbildung erhalten zu haben, trieb sie sich in kleinen Städten bei
wandernden Komödianten herum. Der Sohn hatte eine kleine Stelle
als Commis. All sein bischen Verdienst verschlang der Radfahrsport,
dem er auf Tod und Leben anhing. Er träumte davon, ein grosser
Rennfahrer zu werden, mit Weltrecords die Preise zu gewinnen, und
hätte er nur erst das Gold, dann — ja dann —

»Mit einer elenden Maschine für zweihundert Mark kann man
nichts, gar nichts erreichen,« versichert er den Vater.

Lange steht am Fenster in seiner dürftigen Wohnung. Im Neben-
zimmer poltern und schreien die vier schulpflichtigen Kinder, das
Dienstmädchen besorgt irgend einen Einkauf und kommt nicht zurück.

Der kaum fünfzigjährige Mann steht in verfallener, gebückter
Haltung wie ein Greis neben dem unreif in die Höhe geschossenen
Jüngling.

»Es ist mir schwer genug geworden, dir das Rad zu geben, Otto.
Sieh’, die Wirthschaft kostet viel mehr als zu Mutters Zeiten.«

»Und die Kinder gehen schmutzig und zerrissen,« ergänzt Otto
in verbissenem Ton. »Nur Geld kann uns helfen.«

»Ja, Geld — aber ich kann dir nichts geben,« seufzt der Vater.

»Das Rennrad kostet nur fünfhundert, Vater; es ist ein Gelegen-
heitskauf. Ich versichere dich, in mir ist die Kraft zu einem grossen
Sportfahrer. Ich gebe dir die Summe für das Rad zurück nach dem
ersten Preise —«

»Papa, ich brauche eine Mark fünfzig zu einer Schulpartie,« unter-
bricht ein fünfzehnjähriger Knabe das Gespräch. Er sieht einen Schatten
von Erleichterung und Freude über des vergrämten Vaters Züge
huschen und bricht in ein Jubelgeheul aus, denn vor den Augen der
durch die Thür ihm nachdrängenden Geschwister sieht er seine Bitte-
erfüllt.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 202, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-06_n0202.html)