Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 203
Text
»Morgen hat unsere Lehrerin Geburtstag, die Classe macht ein
Geschenk, ich brauche auch fünfzig Pfennig,« ruft ein zwölfjähriges
Mädchen, die günstige Gelegenheit nutzend.
Befriedigt ziehen die Kinder ab. Lange streicht, wie glättend, mit
der mageren Hand über die müden, faltigen Züge seines Gesichtes.
»Da siehst du, wo das Geld bleibt, Otto. Sie wollen Alle essen,
ich muss sie kleiden, erziehen, wir müssen leben, mein Sohn. Für
Luxus habe ich nichts. Spare von deinem Gehalt.«
»Ich lebe davon. Habe ich nicht schon dadurch ein Recht er-
worben, einmal etwas Aussergewöhnliches von dir zu verlangen? Du
riskirst ja auch gar nichts dabei. Das Interesse für den Rennsport
nimmt täglich zu, die Meisterpreise werden immer höher, und« — mit
einem ganz eigentümlichen Blick fügt der junge, unreife Mensch noch
hinzu — »und ich komme dann vielleicht auch bald dahin, im Golde
zu wühlen wie du.«
»Wie ich —?«
»Ja, aber das wird dann mein Gold sein, und ich werde nicht
nöthig haben, an den Anschaffungskosten für die nöthigsten Dinge zu
knausern.«
Mit einem höhnischen Auflachen wendet er sich ab, geht, wirft
mit Heftigkeit die Thür hinter sich zu und verlässt die ungemüthliche
Wohnung des Vaters.
Das Dienstmädchen trägt ein äusserst mangelhaft zubereitetes
Mittagessen auf. Darnach verlangt sie Geld für Nahrungsmittel, viel
mehr, als je die Frau dafür ausgab.
Wenn doch erst die zwölfjährige Tochter so weit wäre, dafür
zu sorgen! Aber ihr steckt die Frauenemancipation im Kopfe. So jung
sie ist, drängt sie schon instinctiv fort aus den engen Verhältnissen,
um sich eine freie, eigene Existenz zu schaffen.
In tief gedrückter Stimmung verlässt der Beamte das Haus, um
sich wieder nach seinem Arbeitsraum in der Münze zu begeben.
Um ihn her klirrt das Gold. Es gleitet ihm durch die Hände.
Er zählt und zählt. Hier — das würde Otto für sein Rennrad
brauchen; diese tausend Mark würden ihm ermöglichen, sich für ein
Jahr eine Hausdame zu nehmen, die ihm eine gemüthliche Häuslichkeit
schaffen könnte. Hier — diese Summe reicht zu einer Erholungsreise,
um seine Nerven zu stärken.
Er hat seit fünf Jahren keinen Urlaub genommen, nicht ein
einzigesmal ausgespannt, weil ihm ja doch zu einer Reise die Mittel
fehlten. Jetzt plötzlich empfindet er das. Seine Nerven sind gespannt;
ein Laut, eine Berührung schon schmerzt.
Wie nagend, quälend, aufdringlich ist dieser leise Ton, dieses
unregelmässige Klimpern und Klirren um ihn her! Man muss sich an-
strengen, um es überhaupt zu hören. Jeder Versuch, es nicht zu hören,
ist aber dennoch vergeblich. Man könnte wahnsinnig werden in dieser
Monotonie!
Energisch rafft sich der Beamte zusammen und erfüllt seine Pflicht.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 203, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-06_n0203.html)