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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 204

Text

204 GEMBERG.

Aber der Gedanke hat ihn nun einmal. Bei jeder Ziffer, die er
niederschreibt, berechnet er, was ihm die Summe, die sie bedeutet,
sein könnte, wenn er sie hätte.

Horch — tönt diese leise, feine Stimme des Goldes nicht
schmeichelnd, verlockend? Sind alle diese grossen Werthe wohl dazu
bestimmt, ehrlich erworben zu werden?

»Blut und Thränen — Blut und Thränen!«

Nein, das hat Niemand gesagt, aber der alte Münzbeamte weiss
es, die Erfahrung lehrt es, dass all dies neue Gold von Blut und
Thränen benetzt werden wird, sobald es seinen Verkehrsweg ange-
treten hat.

Wie, wenn es nun sein wäre und brächte ihm und seinen Kindern
Glück und Zufriedenheit?

Man soll so etwas nicht denken.

Der alte Mann kann aber nicht anders, seine Nerven peinigen ihn.
Die Sonne flimmert über die Goldschalen hin. Rothe Flecke,
Strahlen wie schimmernde Thränen spielen und irren auf dem gelben
Metall.

Wie das in die Augen sticht, wie das zieht und reisst von
Schläfe zu Schläfe schmerzend durch den Kopf, durch das Hirn.
Ah — eine Erholung, eine Ruhezeit! Die kleinlichen, täglichen Sorgen
reizen und peinigen den Inspector in diesem Herbst mehr wie jemals
im Leben. Er begreift, was ihm seine gute Auguste Alles fern ge-
halten, was sie auf sich genommen hatte.

Wenn nur das leise Klirren des Goldes nicht wäre! Zwanzig
Jahre hat er nicht darauf geachtet, jetzt fürchtet er sich davor. Es ist
ihm, als klänge es ihm schon entgegen, sobald er seine Wohnung ver-
lässt, und doch erschrickt er, wenn er sein Bureau betritt und der
bis dahin eingebildete Ton nun in Wirklichkeit an sein Ohr dringt.

Bald glaubt er ihn überall zu hören, auch zu Hause, auch Nachts.

Namentlich Nachts steigt die nervöse Erregung oft bis zu einer
Art Fieber. Seine treue Lebensgefährtin tritt dann zu ihm und redet
ihm gut zu. Sie gibt ihm die Versicherung, dass ihm das Gold gehört,
das ihn mit seinem leisen, schmeichelnden Tone verfolgt. Nur das —
beileibe nicht das andere, aber dieses gehört ihm.

So — darüber braucht er nun nicht mehr nachzudenken. Er hat
keine Verantwortung, denn die Frau, deren liebevolle Seele den auf
Erden zurückgebliebenen Gatten zu finden wusste, hat ihn beruhigt.

Er sieht schlecht aus, und seine Collegen rathen ihm, einmal
»auszuspannen«, sich krank zu melden.

Aber er ist doch eigentlich nicht krank. Sind denn die Leute
krank, die Nachts nicht schlafen?

Otto ist ein Vierteljahr nicht gekommen, weil er das Rennrad
nicht erhalten hat, um das er seinen Vater bat.

Am Allerseelentage begegnet er ihm am Grabe der Mutter.

»Du bist doch ein guter Junge, Otto. Komm nur morgen, du
sollst dein Rad haben; Mutter will nicht, dass wir getrennt sind.«

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 204, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-06_n0204.html)