Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 205

Text

GOLD. 205

»Ja, das ist gewiss nicht in Mutters Sinn, dass du mich von dir
stösst und mich gar nicht mehr unterstützt.«

»Ich sollte wohl eine Erholungsreise machen, Otto.«

Ganz erschreckt blickt der junge Mann auf. Wie grau und ver-
fallen sieht das Gesicht des Vaters aus! Wie tief sind die Augen in
ihre Höhlen gesunken! Es kommt wohl nur von dieser Umschattung,
dass sie so eigenthümlich flackern und glänzen. Sollte der Vater krank
sein? —

»Du solltest besser gepflegt werden, Vater!« stösst er hastig
hervor. »Martha muss zu dir kommen; sie hat zum Winter kein
Engagement.«

»Martha ist ja so hübsch, sie wird schon noch ein Engagement
finden.«

»Ach, Vater, sie hat nicht den Muth, es dir zu sagen — Martha
hat Unglück gehabt.«

»Wir haben Alle Unglück, lieber Otto, aber jetzt wird es besser
werden, es wird jetzt Alles gut werden, so wie Mutter es haben will.«

Der Vater spricht sehr milde. Ein zerstreutes, abwesendes Lächeln
liegt um seinen Mund. Otto ist ganz ausser sich, denn augenschein-
lich hat ihn der Vater in Bezug auf die in Schuld und Elend ge-
rathene Schwester gar nicht verstanden.

Wie hell und klar ist dieser Novembertag! Wie lockt die schei-
dende Sonne den müden, vergrämten Mann, ihr zu folgen dahin, wo
sie jetzt ihre Herrschaft antreten wird, nach den südlichen Ländern!

Aber man soll so etwas nicht denken!

Das ist doch immer der Grundsatz des treuen Beamten gewesen.
Auch jetzt gibt er ihm die Ueberlegung zurück. Wie könnte er denn
reisen, da er doch gar nichts besitzt!

In der Nacht erklärt ihm seine Frau, dass er Gold nehmen
dürfe zu Ottos Fahrrad. Otto würde sich sonst im Trotz vom Vater
abwenden, vielleicht auf unehrliche Weise sich den Besitz zu verschaffen
suchen. Das Gold ist ein Schatz, auf dem zu diesem Zwecke der
Segen der Mutter ruht.

Am anderen Tage steckt Lange fast ohne jede Vorsicht eine
Goldrolle zu sich. Niemand achtet darauf, keiner der Zähler hat es
bemerkt.

Auch nicht einen Schlag mehr thut sein Herz in dieser verhäng-
nissvollen Minute. Er ist ganz ruhig, ganz überzeugt von seinem Rechte,
diese Rolle zu nehmen. Es hat ja förmlich geklingelt, es hat sich
rauschend und brausend zu ihm gedrängt, ganz so wie es ihm Auguste
beschrieben hatte. Seit er es eingesteckt hat, ist Alles um ihn her
still. Das andere Gold schweigt, es gehört ihm nicht, es will nicht
zu ihm.

Wie die Sonne lockt und die herbe, noch herbstliche Luft!
Sehnsuchtsvoll richten sich die müden, heissen Augen in die Ferne.

Aber dieses Verlangen muss bekämpft werden. Die Kraft reicht
auch dazu noch aus.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 205, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-06_n0205.html)