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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 206

Text

206 GEMBERG.

Wie könnte denn wohl der Inspector jetzt daran denken, Er-
holungsurlaub zu nehmen! Er sieht die Unmöglichkeit klar vor sich.

Mit einem scheuen Blick nimmt Otto das Gold, dessen Ursprung
er sofort erkennt, aus den Händen des Vaters. Wie sonderbar ruhig
der Vater dabei ist! Herrgott, wenn er am Ende öfter — —

Es ist dem jungen Manne doch nicht gut bei dem Gedanken
zu Muthe.

Von Martha trifft in den nächsten Tagen ein verzweifelter Brief
ein. Sie geht ins Wasser, wenn ihr der Vater nicht hilft.

Er wird die Mutter fragen.

In der Nacht sagt sie ihm, dass er dem Mädchen dreihundert
Mark schicken soll.

In der Bank wird natürlich der Diebstahl bemerkt. Wenn auch
das erstemal der Verdacht nicht auf den bewährten alten Beamten
fallen konnte, so werden die Spuren, die zu ihm führen, jetzt doch
viel deutlicher.

Die Direction lässt ihn beobachten.

Das Gold klingt, singt, ja spricht jetzt täglich zu ihm. Dennoch
kommt Lange gar nicht auf den Gedanken, dass er deshalb auf diese
Schätze irgend ein Recht haben könnte. Seine Auguste verkehrt jetzt
in der Nacht regelmässig mit ihm. Sie hat ihm noch nie wieder ge-
rathen, Gold mitzunehmen. So besteht keine Versuchung für ihn,
wenn auch der Wunsch nach einer Erholungsreise nur langsam zurück-
gedrängt ward.

Das Weihnachtsfest in der Wohnung des Inspectors verlief mehr
als ärmlich, so dass am folgenden Tage das Dienstmädchen, das den
Mann seit einem Jahre bestahl, in der ersten Wuth kündigte.

Dann — an einem eisigen Januartage — kam Martha. Bleich,
verblüht, vom Gram wie zerbrochen, schlich sie in die Wohnung
des Vaters, die sie in jugendstarkem Trotz vor wenigen Jahren
verliess.

In einem Tuch, wie ein Packet eingepackt, bringt sie ihr Kind.

Staunend stehen die jüngeren Geschwister um das kleine lebende
Wunder herum. Ein Schwesterchen! Was wird der Vater sagen, wenn
er nach Hause kommt!

Otto übernimmt es, dem kranken gebeugten Manne die Nach-
richt zu übermitteln.

Zu seinem Erstaunen verzerrt sich das Antlitz des Alten nicht
in Zorn oder Schreck. Er streicht sanft mit der Hand über das Haar
seiner Tochter.

»Wie Gott will, Kind, wie Gott will!«

Bei diesem unerwarteten Verzeihen, vor dieser unbegreiflichen
Güte kommt die Erschütterung des unglücklichen Mädchens mit fast
elementarer Gewalt zum Ausbruch.

Sie wirft sich zu Boden, umklammert die Knie des Vaters und
bedeckt seine Hände mit Küssen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 206, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-06_n0206.html)