Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 207
Text
So hat sie doch noch ein Heim, ein Dach über der Wiege ihres
Kindes. Vorläufig wenigstens.
Bald darauf kehrt auch Otto stellenlos ins Elternhaus zurück.
Der Principal hat den jungen Commis entlassen, weil dieser an nichts
Anderes mehr denkt, als an sein Rennrad, nichts im Kopfe hat wie
seine Vereinsangelegenheiten, denn natürlich ist der künftige Meister-
fahrer zunächst Mitglied eines Radfahrervereines geworden.
Er ist auch gar nicht unglücklich über seine Stellenlosigkeit, die
es ihm möglich macht, sich ausschliesslich dem Trainiren und den
Vorübungen für seinen ersten grossen Sieg auf der Rennbahn zu
widmen.
So hat denn nun der Münzbeamte seine sechs Kinder und noch
dazu das Enkelchen im Hause.
Aber Martha hat nicht einmal so viel von der verstorbenen
Mutter gelernt, um dem Vater auch nur das Wenige an Behaglichkeit
schaffen zu können, wie das seit ihrer Ankunft entlassene unehrliche
Dienstmädchen ihm bot.
Alles, was noch in der Wirthschaft ist, geht unter Marthas
Händen zugrunde. Die Wäsche, einen Theil der Betten, Hausgeräth,
zuletzt sogar die besseren Kleidungsstücke bringt sie nach und nach
ins Leihhaus.
Selten findet der rastlos arbeitende Vater, wenn er nach Hause
kommt, ein gemüthliches geheiztes Zimmer, noch seltener gibt es eine
geniessbare Mahlzeit.
Die im Wachsen begriffenen Kinder, der in scharfer Winterluft
eifrig radfahrende Otto machen ziemlich grosse Ansprüche in dieser
Hinsicht. Täglich gibt es bei Tische zwischen den Geschwistern Zank
und Geschrei. Lange selbst berührt oft kaum die mangelhaften Ge-
richte.
Immer faltiger wird sein abgezehrtes Antlitz, immer dürrer
werden seine welken, stets zitternden Hände. Die hohe schlotterige
Gestalt wird magerer, der Rücken beugt sich mehr und mehr, er
sinkt fast zusammen. Die Augen flackern unruhig, die Haut ist trocken
und heiss.
Nie hört man von ihm ein unfreundliches Wort, nie eine Klage.
Jeder Sinn für das, was um ihn vorgeht, scheint völlig er-
loschen.
Wieder sitzt er in seiner Zählstube, wiegt, siegelt und stempelt
die Geldrollen, die von den Zählern zusammengestellt sind.
Von allen Seiten klingt und klappert das Geräusch der durch
die Hände der Leute rinnenden Goldstücke.
Lange aber vergisst die Werthangabe auf seine Rollen zu schreiben.
Er wiegt sie ab, ohne auf die Gewichtstücke zu achten, deren er sich
bedient. Dazu hat er auch keine Zeit.
Er hört und sieht Dinge, wie er sie niemals erlebte.
Neben ihm steht seine Auguste, die treue, geliebte Gefährtin seiner
längsten besten Lebensjahre. Es erscheint ihm nur sehr eigentümlich,
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 207, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-06_n0207.html)