Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 208

Text

208 GEMBERG.

dass sie von Niemand bemerkt wird. Sie spricht auch kein Wort, nur
ihre bleiche Hand deutet von Zeit zu Zeit auf irgend eine Rolle
mit Gold.

Er öffnet dann die betreffende Rolle, lässt den Inhalt durch seine
Finger gehen und lauscht auf den metallenen Klang des Goldes, der
zu ihm in Worten spricht:

»Von Anbeginn, seit das Edelmetall im Berggestein lag, war es
für dich bestimmt, nimm es, denn du bist der König des Goldes.«

Der Kaiser, dessen Profil den Doppelkronen aufgeprägt ist, flüstert
es ihm zu. Sobald er zögert, wird die feine Stimme des Kaiserbildes
lauter. Nimm es, nimm es doch, das Gold ist ja dein.

Mit ruhigem, zufriedenem Lächeln füllt er jetzt seine Taschen,
ja er steht auf, holt sich seinen Ueberzieher vom Haken an der Wand
und bringt einige grosse, schwere Goldrollen auch dort unter.

Freundlich ruhen während dessen die Augen der Gattin auf ihm.
Er nickt ihr zu.

Wie herrlich werden sie nun leben, da er König des Goldes ge-
worden ist!

Lautlos verschwindet aus der Zählstube einer der Beamten, ohne
dass es Lange bemerkt.

Als er die Münze verlassen will, erwartet ihn unten ein Wagen.

Drei Herren, ein Arzt, ein Polizeibeamter und einer seiner Vor-
gesetzten, fordern ihn ganz unbefangen auf, mit ihnen nach Hause zu
fahren.

Er ladet die liebenswürdigen Herren ein, in seine Wohnung zu
kommen, um mit ihm ein Fest zu feiern.

Ein Fest?

Ja, seine Ernennung zum König des Goldes.

Des hochseligen Kaiser Wilhelms Majestät hat ihn heute per-
sönlich dazu ernannt. Die Zähler der Münze sind Zeugen dafür. Es
ist auch ein grosses Glück, denn seine Tochter Martha verlangt einen
Kinderwagen, weil sie das Kleine bei der grossen Kälte sonst nicht an
die Luft bringen kann.

Die drei Begleiter nehmen die Einladung des Goldkönigs an. Er
wird gewiss die Gnade haben, ihnen zu Hause alle seine Schätze zu
zeigen.

Als der Münzinspector mit seinen drei Gästen die Treppen zu
seiner Wohnung erstiegen hat, tönt ihnen von oben her heftiges Schreien
und Lärmen entgegen. Dazwischen das Weinen grösserer Kinder.

Erst ganz oben hört man das Wimmern des Säuglings.

Otto Lange hat auf der Rennbahn eine furchtbare Enttäuschung
erlebt. Anstatt den Siegespreis zu gewinnen, ist er der Letzte unter
allen Fahrern geblieben.

In verzweifelter Wuth hat er dann behauptet, der Sieg sei durch
Betrügerei errungen. Auf eine scharfe Zurechtweisung eines Comité-
mitgliedes hatte er mit einer Beleidigung geantwortet und den Scandal

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 208, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-06_n0208.html)