Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 209
Text
dadurch vollkommen gemacht, dass er seiner Entfernung aus dem
Locale Gewalt entgegensetzte.
So, in einem Zustande, der an Raserei grenzte, kam er in der
väterlichen Wohnung an und liess seine Wuth an den Kindern durch
Misshandlungen aus.
Schmutzig, weinend, zerlumpt kauern die drei Jüngsten in den
Ecken, das zwölfjährige Mädchen mit dem Kinde der Schwester im Arm.
In leidenschaftlichem Trotz, das Weinen verbeissend, wickelt der
älteste Knabe einen Lappen um sein bei der Prügelei verletztes Hand-
gelenk.
Trotz der scharfen Januarkälte ist das Zimmer nicht geheizt.
»Scher’ dich in die Küche und sorge für Essen!« schreit Otto
die Schwester an, und als sie gehen will: »Uebrigens kannst du mal
an meinen Herrn Schwager schreiben, ich brauche Geld«.
Höhnisch lacht er auf.
»Verkaufe dein dummes Rad und arbeite wie andere Menschen,«
antwortet sie.
»Wie andere Menschen? Na, wenigstens liege ich dem Vater
nicht mit zwei Mäulern auf der Tasche.«
Der Eintritt des Vaters unterbricht diese Scene.
Hoheitsvoll, mit der Geberde eines Komödiantenkönigs steht er
mitten in dieser Armuth zwischen diesen frierenden, hungernden
Kindern, zwischen den zankenden, herzlosen Geschwistern.
Mit einer grossartigen Geste weist er hin auf die traurigen,
ärmlichen Möbel, die Reste einer Einrichtung, für die kein Trödler
mehr etwas geben wollte.
»Meine Kinder, mein Enkel, mein Haus, Alles, was zu mir und
zu meinem Hause gehört, versammle sich zum Feste!«
Entsetzt, als ahnten sie etwas Furchtbares, das nun kommen
müsse, starren die Kinder zu dem Vater empor.
Die drei Fremden stehen, erschüttert von der Contrastwirkung
dieser Bettlerarmuth und dieses Grössenwahnsinns, im Rahmen der Thür.
Misstrauisch und scheu betrachtet der stellenlose, mit Schulden
des Leichtsinns belastete Commis diese Herren. Trotzig begegnet ihnen
der Blick des zweiten Sohnes.
Nur die erbärmliche Schauspielerin ahnt dunkel, dass das, was
ihr aus ihres Vaters Augen entgegenflammt, der Wahnsinn ist, der helle
Wahnsinn.
»Huldigt mir, dem König des Goldes!« donnert der Vater.
Schweigen. —
»Auf euere Knie, Schergen des Goldes!«
Wild rollen die Augen des Irrsinnigen.
Instinctiv gehorchen die Kinder. Sie knieen um den Vater herum,
auch die junge Mutter, die jetzt selbst ihr Kind an die Brust drückt.
»Die Gnade meiner Majestät leuchtet über euch!«
Mit würdevoller Geberde greift der Irre an die Brusttasche
seines Rockes, zieht eine Hand voll Doppelkronen hervor und legt
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 209, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-06_n0209.html)