Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 282
Text
stein, ist von Eugen Sue als leuchtendes Vorbild dieser ersichtlich
erstarkenden Nächstenliebe aufgestellt worden.
Welches Uebel will man denn heben? Das Laster, die Sünden-
lust! Ihm sollen die Quellen durch nützliche Reformen abgeschnitten,
die verführten Seelen entrissen und zur Lust an der Sittlichkeit be-
wogen werden. Und wer will dies grosse Werk, die Sünde um ihre
Opfer und Diener zu bringen, verrichten? Wer anders als diejenigen,
welche die Tugend lieben und einen sittlichen Lebenswandel für den
wahren Beruf des Menschen erkennen!
Also die Tugendhaften wollen die Lasterhaften auf den rechten
Weg bringen, die Diener im Reiche des Guten wollen das Reich des
Bösen zerstören.
Seid ihr nicht Alle damit einverstanden, dass es nichts Grösseres
und Edleres geben könne, als die Verherrlichung des Guten, und habt
ihr wohl etwas Anderes an euch zu tadeln und zu bereuen, als dass
ihr nur allzuoft noch vom Wege des Guten abweicht und »sündiget«?
Fällt es einem von euch jemals ein, zu fragen, ob das Gute wohl
werth sei, dass man darnach strebe, und ob das Gute wirklich das-
jenige sei, was der Mensch durch sein Leben zu verwirklichen suchen
müsse? Ihr zweifelt ebensowenig daran, als die Lasterhaften und Gott-
vergessenen etwas Gründliches dagegen einzuwenden wissen, wenn sie
auch noch so viel dagegen — sündigen.
Ihr, die ihr die Sünder bekehren und bessern wollt, ihr seid ja
selbst unbekehrbar und unverbesserlich. Ihr lasst den Zweifel gar nicht
an euch kommen, ob das Gute nicht eben ein — leerer Wahn sei,
und wenn ihr euch eingestehen müsst, dass ihr selbst es gleich den
Philosophen, die auch nur »Liebhaber der Weisheit« bleiben, niemals
erreicht, ihr meint doch, die Sünder müssten zum Guten vermocht und
dahin gebracht werden, »gut zu thun«. Ihr wollt die Sünder bekehren
von der Lust am Bösen, mögt ihr euch vielleicht nicht selbst von der
Lust am Guten bekehren? Fragt euch nicht, was das Gute sei, sondern
ob es überhaupt sei, oder wollt ihr durchaus wissen, was es sei, so
fragt euch zu allererst, ob es nicht euere — Einbildung sei.
Doch ihr seid schlagend mit eueren Beweisen, indem ihr ja nur
auf Beispiele hinzuweisen braucht: »die Lüge ist böse, die Aufrichtig-
heit aber ist gut, die Unbussfertigkeit ist böse, die Bussfertigkeit und
Reue ist gut, die Unkeuschheit eine Sünde, die Keuschheit eine
Tugend u. s. w.«
Wohlan denn, blicken wir in die Mysterien und sehen dem
Spiele zu, das Tugend und Laster in diesem Romane miteinander
treiben. Ich werde von dem Zusammenhange und Verlaufe dieser Ge-
schichte nichts sagen, denn ich setze voraus, dass ihr’s gelesen habt.
Ebensowenig will ich von dem sogenannten Kunstwerthe des
Buches sprechen. Wenn ein sogenannter Jongleur die halsbrechendsten
Stücke producirt, oder ein Taschenspieler das Erstaunlichste leistet, so
wird man doch am letzten Ende sagen, es waren eben Jongleur- und
Taschenspielerkünste, ausgezeichnet in ihrer Art; aber über die Art
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 282, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-08_n0282.html)