Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 283

Ein ausgegrabener Essay (Stirner, Max)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 283

Text

EIN AUSGEGRABENER ESSAY. 283

spricht man ohne besondere Achtung. So will ich auch unserem Ver-
fasser nicht über die Kunstfertigkeit im Abschildern der socialen Con-
traste und Charaktere zu nahe treten, wenngleich er feineren Kunst-
kennern schwerlich überall ein Genüge gethan haben mag; über das
Abschildern selbst aber denke ich nicht gross genug, um mich durch
das darin bewiesene Talent gegen den Mangel an aller tieferen und
gewaltigeren Einsicht in das Wesen der Gesellschaft blind machen zu
lassen. Görres hat auch ein schönes Talent an die Verstocktheit eines
dummen Gedanken verschwendet und muss in diesen Kindereien sich
zu Tode gängeln lassen, wie er, so viele Andere.

Obwohl der Grossherzog von Gerolstein nicht als der Held des
Romans gelten kann, so wird doch nicht allein das ganze Getriebe
desselben durch ihn in Bewegung gesetzt, sondern er repräsentirt auch
die Höhe der Anschauungen und Gedanken, zu welcher der Dichter
selbst sich emporschwingt. Diese Höhe ist aber keine andere, als die
Idee der Sittlichkeit, und an jeden Gedanken und jede That wird ein-
für allemal dasselbe Ellenmass angelegt: das der Sittlichkeit.

Wir haben also ein dichterisches Kunstwerk vor uns, das, ganz
von dem Standpunkte der Sittlichkeit ausgearbeitet, zeigen wird,
welcherlei Menschen dieser Standpunkt erzeugt, und was überhaupt
unter der Herrschaft dieses Princips zu Tage kommt.

Durch eine Versündigung gegen das geheiligte Haupt seines
Vaters und Herrn, auf den er in einem Augenblick der Liebeswuth
das Schwert gezückt, ist Rudolf (der Grossherzog) zu dem Entschlüsse
reumüthigster Busse getrieben worden, die er nach seiner Meinung nur
dadurch bethätigen kann, dass er »nach Kräften Gutes wirkt«. Dieser
Vorsatz bringt ihn nach Paris, wo er die Spelunken der Armuth und
des Verbrechens aufsucht, um Leiden zu lindern, verhärtete Herzen
zu erweichen oder durch ein fürchterliches Strafgericht in Verzweiflung
zu stürzen, und um zu helfen, wo geholfen werden kann. Bei seinen
fürstlichen Mitteln gelingt es ihm leicht, mancher physischen Noth zu
steuern, und die Familie Morel u. A. verdankt ihm ihr Lebensglück;
näher indess, als die Beseitigung physischer Leiden, liegt ihm die Ent-
fernung moralischer Gefahren am Herzen, und dieses Bestreben führt
ihn mit der eigentlichen Heldin dieses Romanes zusammen.

Fleur de Marie (Marien-Blume) oder, wie wir sie schlechtweg
nennen wollen, Marie, das Kind seiner ersten Liebe, von dessen Exi-
stenz Rudolf keine Ahnung hat, ist in der Haft, unter den grässlichen
Händen der Eule (Chouette) und in anderen traurigen Verhältnissen
zu einem blühenden Mädchen aufgewachsen und muss endlich, von
Armuth gepresst und von Kupplerinnen beschwatzt, sich entschliessen,
das Gewerbe eines Freudenmädchens zu ergreifen. Noch unergriffen
von der Lust an dieser Lebensweise, wird sie befleckt, ohne sich selbst
zu beflecken: sie ist unbetheiligt und noch keine Sclavin der Begierde,
die ihrem Stande erst die rechte Bekräftigung geben würde. So findet
sie Rudolf, und was das Laster an ihr nicht zu leisten vermocht hatte,
das versucht jetzt die Tugend; sie versucht das arme Kind, das eine

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 283, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-08_n0283.html)