Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 284
Text
Beute des Lasters zu werden droht, zur Tugend zu führen. Rudolf
bietet alle Versprechungen und Verlockungen auf, durch die er die
leicht erregbare Phantasie des Mädchens zu bestechen hoffen darf.
Sie, die mitten in einem taumelnden Lasterleben nicht »gefallen« war,
sie widersteht den einschmeichelnden Verheissungen des Tugendwerbers
nicht und — fällt. Doch möchte sie immerhin fallen, wenn sie sich
nur wieder erhöbe. Wie aber soll ein E. Sue, der Dichter des tugend-
reichen und liberalen Bürgerwesens, sie zu einer weiteren Erhebung
kommen lassen? Ist sie nicht gerettet, wenn sie in den Schoss der
allein seligmachenden Sittlichkeit sich geflüchtet hat? Meint man
etwa, sie sollte sich zur Frömmigkeit erheben, so geschieht das ja in
vollem Maasse, wie denn wahre Sittlichkeit und wahre Frömmigkeit
sich niemals ganz von einander trennen lassen; denn selbst diejenigen
Sittlichen, welche den persönlichen Gott leugnen, behalten ja am Guten,
am Wahren, an der Tugend ihren Gott und ihre Göttin.
Doch ich meine nicht, dass Marie nach jenem Falle sich zur
Frömmigkeit erheben sollte; ich meine nur, dass, wenn es etwas Werth-
volleres gäbe als Sittlichkeit und Frömmigkeit, unser Dichter davon
nichts wissen könnte, weil es nicht in seinem Gedankenkreise liegt
und seine Personen sich nie dazu erheben könnten, weil die Besten
darunter doch nicht besser zu sein vermögen als ihr Schöpfer. Marie,
die von Rudolf für den Dienst der Sittlichkeit angeworben wurde,
wird darin fortan in Treue und Gehorsam als ein ergebener und folg-
samer Dienstbote verharren, und welche Geschichte auch ihr nun fol-
gendes Leben aufweisen möge, sie wird immer nur die Schickungen
enthalten, welche der strenge Dienst ihrer Gottheit über Marien, die
treue Magd, verhängt.
Den Klauen der Eule, die nur den Leib verderben konnte, ent-
ronnen, geräth Marie in die Macht des Priesters, der ihre zarte Seele
mit der frommen Lehre verdirbt, dass ihr Leben von nun an ein
Leben der Busse sein müsse, um bei Gott sich dafür die künftige Ver-
gebung zu erkaufen. Das entscheidet über ihre ganze Zukunft. Dieser
Wurm, den ihr der Priester ins Herz setzte, nagt fort und fort, bis er
sie zur Entsagung und Zurückziehung aus der Welt gezwungen und
endlich gar das gottergebene Herz zerfressen und zerbröckelt hat. Und
doch ist jene fromme Lehre des Priesters die wahre Lehre der Sitt-
lichkeit, gegen welche zuletzt alle »vernünftigen« Einwendungen Rudolfs
verstummen müssen.
Rudolf nämlich gibt sich der süssen Hoffnung hin, am Hofe zu
Gerolstein mit Marien, seinem reizenden Töchterchen, die Wonne eines
innigen Familienlebens und die Freuden eines Vaters kosten zu können,
der sein von Allen verehrtes und angebetetes Kind, die sittsame und
tugendreiche Prinzessin, täglich mit neuen Gaben der Liebe überhäufen
und für die einst erduldeten Qualen eines verstossenen Daseins fürstlich
und väterlich entschädigen kann. Alle Lust der Welt, wie sie ein
grossherzoglicher Hof nur bieten kann, soll ihr von nun an offen stehen.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 284, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-08_n0284.html)