Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 285

Ein ausgegrabener Essay (Stirner, Max)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 285

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EIN AUSGEGRABENER ESSAY. 285

Aber um welchen Preis müsste Marie die Lust der Welt erkaufen?
Nur wenn Niemand ihre frühere Aufführung erfährt, wird man die
Liebenswürdigkeit ihres gegenwärtigen Betragens anerkennen; erführe
man sie, so schützte kein Glanz der Krone die arme Prinzessin vor
den giftigen Blicken und dem verächtlichen Achselzucken dieser un-
erbittlichen Verehrer der Sittenreinheit. Das weiss Rudolf sehr wohl
und trägt deshalb auch nicht das leiseste Bedenken, seine gesammte
Umgebung über Mariens Jugendjahre zu belügen. Welcher vernünftige
Mensch wird auch anders handeln? Nur kein Ultra, selbst nicht in
der Sittlichkeit! So spricht der sittliche Liberale.

Allein Marie, die reine Priesterin des sittlichen Princips, kann
die, statt alle Folgen ihrer Missethat jetzt, da sie in die sittliche Welt
eingetreten ist, bussfertig zu tragen, die Busse durch eine Lüge von
sich weisen? Darf sie durch Täuschung sich einschleichen und reiner
erscheinen wollen, als sie ist? »Täuschen, immer täuschen,« ruft sie
verzweifelnd aus, »immer fürchten, immer lügen, immer beben vor dem
Blicke desjenigen, den man liebt und achtet, wie der Verbrecher zittert
vor dem unerbittlichen Blick seines Richters!« Darf Marie, die Dienerin
am Altare der Sittlichkeit, darf sie — lügen?

Die Lüge ist eine Sünde, die kein sittlicher Mensch sich vergeben
kann. Er mag sich mit der Noth entschuldigen, so viel er will, auch
die Nothlüge bleibt eine Lüge. Wie kann der der Wahrheit dienen
unter allen Versuchungen, der sich in mancher Versuchung zur Un-
wahrheit verleiten lässt? Kein Sittenlehrer kann die Lüge rechtfertigen,
und wird dennoch von sittlichen Menschen so viel gelogen, so beweist
dies eben nur, dass das Princip der Sittlichkeit oder des Guten zu
kraftlos ist, um das wirkliche Leben zu leiten. Denn in diesem wird
der Mensch unbewusst zu Thaten geführt, die seinem schwächlichen
Principe Hohn sprechen und ihn ermuntern könnten, sich von dem
Gängelbande desselben loszureissen; aber man reisst sich von einem
Wahne nicht anders los, als wenn man ihn theoretisch überwindet.

Marie, einmal gewonnen für den Cultus des Guten, ist zu fein-
fühlend, um sich zu einer Ausnahme von seiner Regel zu bereden. Sie
kann nicht lügen. Aber wie könnte sie der Welt, dieser »unerbitt-
lichen Richterin«, nicht gestehen, was sie verbrochen? Sie könnte es
gestehen, aber dann wäre sie auch »gerichtet«. Die Welt des Guten
könnte nicht bestehen, wenn sie nicht »Güter« hätte, und unter diesen
Gütern ist die Keuschheit ein Gut, dessen Einbusse sie keinem — Weibe
verzeiht. Eine nachfolgende, dauernde Züchtigkeit kann die ursprünglich
der sittlichen Ehre geschlagene Wunde vernarben lassen, aber den
Schandfleck der Narbe wäscht keine Zeit ab. Die Welt, welche an die
Sittlichkeit und ihre Güter glaubt, kann — nicht vergessen; für sie
haben diese Güter einen Werth, und sie mag es anstellen, wie sie will,
die Empfindung eines Mangels und Gebrechens kann sie da, wo eines
dieser Güter, an denen ihr Wahn klebt, verloren gegangen ist, nicht
gänzlich unterdrücken. Ein Weib, das seine Keuschheit preisgegeben,
das unter dem »Auswurf der Gesellschaft« gelebt, das sich »entwürdigt«

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 285, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-08_n0285.html)