Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 286
Text
hat, wird für alle Zeit scheel angesehen werden; denn es ist »befleckt,
vergiftet, berührt von Schändlichkeiten«, es ist — »geschändet«. Und
für die zugezogene Schande fordert die Welt als Busse eine unaus-
gesetzte Scham, eine Scham, die sie stets in der Büsserin wach zu
erhalten beflissen sein wird.
Vielleicht meint man aber, es sei das nur eine Ueberspanntheit
und falsche Scham, die jeder nicht zu reizbare Mensch leicht über-
winden würde. Wir müssen aber doch fragen, was in dem sittlichen
Urtheil der Welt denn eigentlich Geltung habe, ob der Mensch als
solcher oder — seine Güter. Es ist nicht ohne den innigsten Zu-
sammenhang, dass gerade die Zeit des Liberalismus und der Bourgeoisie
so viel auf Sittlichkeit hält; ein Banquier und ein Sittlicher beurtheilen
den Menschen aus ein und demselben Gesichtspunkte, nämlich nicht
nach dem, was er durch sich ist, sondern nach dem, was er durch
seinen Besitz ist. »Hat er Geld?« Mit dieser Frage läuft die andere
parallel: »Hat er Tugenden?« Wer kein Geld hat, mit dem befasst
sich der Banquier nicht, er »macht ihm Schande«; wer die Tugenden
eines ehrbaren Bürgers nicht »besitzt«, der muss ihm nicht zu nahe
kommen. Nach Gütern misst der Eine wie der Andere, und der Mangel
eines Gutes ist und bleibt ein Mangel. Wie ein Pferd, das alle
Tugenden des besten Pferdes, aber eine schlechte Farbe hat, einen
Mangel behält, so haftet an einem Weibe, das um die unbefleckte Reinheit
gekommen ist, auf Zeit ihres Lebens ein Flecken. Und mit Recht,
denn es fehlt ihr eines der hauptsächlichsten Güter, die einem sittlichen
Weibe Ehre machen. Ist Marie auch jetzt keusch, so ist sie es doch
nicht immer gewesen, ist sie auch jetzt unschuldig, so war sie es doch
vorher nicht. Die Unschuld ist so zarten Wesens, dass sie niemals
berührt worden sein darf; einmal verletzt, ist sie auf immer ver-
schwunden. Unschuld ist eine so fixe Idee, dass Morel an ihr zum
Wahnsinnigen wird und Marie zur Betschwester. Es muss auch so sein.
Ist der Abstand der Verworfenen von den Reinen, der Unsittlichen
von den Sittlichen einmal ein fixer, so drückt Marie nur zart, innig
und unverhohlen das Gefühl dieses unauflöslichen Gegensatzes aus. Sie
ist — »entweiht«.
Was soll die Einwendung beweisen, dass man ja längst nicht
mehr so penibel sei und gegen früher einer grossen Nachsicht in
diesem Punkte huldige? Erstlich liesse sich diese Behauptung überhaupt
bestreiten, weil man zwar keine Kirchenstrafen mehr verhängt, sittlich
aber weit weniger lax urtheilt als in den Zeiten des ancien regime;
sodann aber hat die grosse Masse von jeher an vielen Stellen ihrer
Haut harte Schwielen gehabt und gegen die strengen Consequenzen
ihrer Glaubensartikel sich unempfindlich gezeigt. Soll darum ein
zarter empfindendes und strenger denkendes Wesen, wie Marie, dem
Schlendrian der Alltagsmenschen verfallen müssen?
Vielmehr müssen wir anerkennen, für sie, die den Anforderungen
der Sittlichkeit ein volles Genüge zu thun sich gedrungen fühlte, war
die Zurückziehung aus der Welt unvermeidlich. Denn belügen durfte
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 286, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-08_n0286.html)