Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 288
Text
dass die mit der Tugend zusammenhängende Reue das arme Mädchen
unglücklich stimmte und um seinen Frohsinn brachte, sondern den
schärferen, dass sie eine gedrückte Sclavin werden musste, sobald sie
in die sittliche Welt eintrat und ihren Pflichten sich zu unterwerfen
begann. Als der Würgengel der Bekehrung es einmal erfasst hatte,
da war es um dies zarte Kind geschehen. Unter dem Druck der
Verhältnisse, in welche ihr Schicksal sie geworfen hatte, hätte der
offene sinnige Geist dieser Bajadere das starke Zornfeuer ansammeln
können, das dazu gehört, um die lastende Erdwucht einer erstarrten
Gesellschaft zu durchbrechen, und aus dem Staude der Erniedrigung
heraus sich zu — empören. Was lag am Verluste der Keuschheit bei
einem Mädchen, das diesen und jeden Verlust an der ganzen schuldigen
Welt zu rächen Muth und Geist hatte?
Aber ein E. Sue kennt kein anderes Glück als das der ehrlichen
Leute, keine andere Grösse als die der Sittlichkeit, keinen anderen
menschlichen Werth als den der Tugendhaftigkeit und Gottergebenheit.
Ein Menschenkind, aus dem ein freier Mensch werden konnte, musste
zum Tugenddienste verführt, ein noch unverdorbenes Gemüth musste
mit dem Wahn der »guten Menschen« vergiftet und verderbt werden.
Wenn ein Dichter darzustellen vermag, wie seine Heldin, die mitten
im Gewühl der schmutzigsten Laster ihr Leben führen und selbst die
Blüthe ihres Leibes ihm zur Beute lassen muss, nicht gleich der Chouette
oder dem Schulmeister oder auch ihren weiblichen Altersgenossen zu
einer Dienerin des Lasters wird, sondern ähnlich einer Atheistin, welche
die kirchlichen Gebräuche zwangsweise erfüllt, völlig frei bleibt: sollte
man da nicht meinen, er musste sie auch über den Einfluss der Tugend
erhaben halten können? Aber nein, der schwächliche, vom Ideale des
»rechten Bürgerthums und wahren Staates« träumende Poet macht aus
ihr, statt eines gestählten Charakters, ein sentimentales, vom Wahne
des »Guten« leicht berückbares Gemüth, macht dasselbe Mädchen,
das sich gegen das Laster behauptete, zu einem schwachen, kraft-
losen Geschöpf, das sich mit Leib und Seele in die Sclaverei der
Tugend anheimgibt.
Auch nicht eine Person findet sich in dem ganzen Romane, die
man einen selbstgeschaffenen Menschen nennen könnte, einen Menschen,
der, rücksichtslos sowohl gegen seine Triebe als gegen den Antrieb
eines Glaubens (Glauben an Tugend, Sittlichkeit u. s. w. und Glauben an
das Laster) sich kraft der eigenen schöpferischen Allmacht selbst erschüfe.
Die einen nämlich folgen blindlings der Leitung ihres Herzens,
ihrer Gemüthsart, ihrer Natürlichkeit. So die Rigolette (Lachtaube):
sie ist eben so, wie sie ist, ein zufriedenes Gemüth und eine glück-
liche Mittelmässigkeit, und was sie ist, das wird sie immer bleiben,
ein Wesen ohne alle Entwicklung, wie eben ihre Canarienvögel auch;
sie können nur Schicksale erfahren und erleiden, aber sie können
nicht anders werden. Die Kehrseite zur Rigolette gibt der kleine
Lahme ab, ein schadenfrohes Kind, das eben immer von seiner Lust,
der Schadenfreude, die natürlich mit dem Alter an hämischem Wesen
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 288, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-08_n0288.html)