Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 289
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zunimmt, sich bestimmen lassen wird, bis es einmal auf dem Schaffot
endet und so geschichtlos in die Grube kommt wie Rigolette in ein
ehrsames Grab. Welche Art von Trieb eine lebenswierige Herrschaft
über das Individuum ausübt, macht hiebei keinen wesentlichen Unter-
schied; bei Ferrand ist’s der Geiz, bei dem Spitzigen die energielose
Schwatzhaftigkeit u. s. w.
Für die zweite Gattung entwicklungsloser und unfreier Menschen,
derjenigen nämlich, welche weniger von ihrem natürlichen Triebe, desto
mehr aber von einem Glauben, einer fixen Idee abhängen, hat E. Sue,
der selbst ein Knecht unter diesen Knechten nichts Besseres kennt,
besonders auf die Tugendbeflissenen eine pathologische Genauigkeit
verwendet. Obenan steht sein tugendgläubiger Grossherzog, der zu dem
grossen Orden der »Wohlthäter der leidenden Menschheit« gehört und
sein Ordenszeichen nicht auf, sondern in der Brust trägt. Dieser
»barmherzige Bruder« Rudolf, milde und streng und ganz dazu ge-
macht, die Menschen zu »bemuttern«, will die im Sündenpfuhl ver-
kommenden Unglücklichen physisch und moralisch bessern und — be-
lohnen, die hoffnungslos Verdorbenen aber unschädlich machen und
durch ausgesuchte Seelenmartern — bestrafen. So zieht er in Paris
ein, und so zieht er, ungeheilt von seinem Wahnsinn, wieder hinaus,
nachdem er seine Tochter in das Gotteshaus der Tugend eingeführt
und um die letzte Möglichkeit gebracht hat, ein eigener Mensch zu
werden. Als die Tugend dies Kind endlich ganz um den Verstand
und ums Leben bringt, da gehen dem barmherzigen Bruder zwar die
Augen auf, aber nicht etwa über den Götzen, für dessen Priesterdienst
er die Unglückliche geopfert, sondern über die »Gerechtigkeit des
unerforschlichen Gottes«, der seinen Angriff auf den Vater jetzt an
ihm als Vater durch den Verlust der Tochter rächt. So schwach-
sinnig ist dieser Kämpfer für Tugend und Religion, dass er in der
consequenten Durchführung seines eigenen Princips, die er in der
Handlungsweise der Tochter anzuerkennen und zu bewundern nicht
umhin kann, nichts sieht als ein »Zorngericht« Gottes. Marie erfüllt
ganz und vollständig das, was Sittlichkeit und Religion fordern; ihr
Vater muss selbst bekennen, dass »sein unglückliches Kind in Allem,
was das Zartgefühl des Herzens und der Ehre betrifft, mit einer so
unerbittlichen Logik begabt sei, dass man ihr nichts erwidern könne«
— er »gibt es auf, sie zu überreden, da alle Vernunftgründe zu ohn-
mächtig sind gegen eine so unüberwindliche Ueberzeugung, die aus
einem edlen und erhabenen Gefühle herstammt« — ja, er gesteht, dass
er in Mariens Namen auch »so würdig, so muthig« gehandelt haben
würde: — und nun, was erkennt er in dieser unbeugsamen, vollendeten
Sittlichkeit seiner Tochter? Eine »Züchtigung« Gottes, der ihm diese
Erhabenheit seines Kindes zur »Strafe« schicke! Wahrlich, man kann
das feige Juste-milieu unserer liberalen Zeit nicht grausamer, nicht
hohnlachender zeichnen, als ein weichmüthiger Anhänger desselben es
unfreiwillig hier selber gethan hat. Der gute Fürst hat bei seiner
Bussfahrt »nichts gelernt und nichts vergessen«. Als Mensch ohne Ent-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 289, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-08_n0289.html)