Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 290
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wicklung und Selbstschöpfung erfährt er nur die harten Schicksale,
welche der Dienst der Tugend ihren Gläubigen bereitet: er macht nur
theologische Erfahrungen, keine menschlichen. Oder unterwirft er
jemals den Herrn, welchem er dient, der Kritik, und fällt es ihm auch
nur einmal ein, die Ideen der Sittlichkeit, Religiosität, Ehrlichkeit
u. s. w., für deren Dienst er wirbt, nach ihrem Kern zu fragen? An
ihnen steht ihm, als an festen Grenzen, der Verstand still, und jede
weitere Erhebung, jede Erlösung und Befreiung von diesem absoluten
Herrn ist dem von diesem Punkte an urtheilsvollen Fürsten unmöglich.
So scharfsinnig er sich auch erweisen mag als sittlicher Mensch, so
durchaus geistlos ist er im Urtheil über den Menschen, ein treues Ab-
bild seines tugendpriesterlichen, armseligen Dichters.
Im entgegengesetzten Glauben eingekerkert und mit Fanatismus
ihm ergeben ist die Mutter Martial. Auch das Verbrechen hat und
muss seine Fanatiker haben, die daran glauben und es zu Ehren
bringen wollen: die Mutter Martial ist eine — Lasterheldin. Sie lebt
und stirbt für ihr Ideal, das Verbrechen. Wie die Tugendgläubigen,
so ist auch sie, die Lastergläubige, von einer fixen Idee um alle Ent-
wicklung und Schöpfung ihrer selbst gebracht; sie muss untergehen
mit diesem Pathos, weil sie nicht heraus kann. Auch für sie gilt jenes
»Hier steh’ ich, ich kann nicht anders«. Erstarrt und ergraut in ihrem
Glauben, ist sie der Kritik, der einzigen Erlösung von jedem bis zur
unnahbaren Heiligkeit anschwellenden Wahne so unfähig wie irgend ein
anderer Gläubiger; ja alle Gründe, welche sie daraus erretten könnten,
dienen ihr vielmehr, wie es bei Wahnsinnigen der Fall ist, zur Be-
stärkung. Für sie gibt es keine andere Erfahrung, als die der Schickungen,
welche der Wahn, der ihr Leben abspinnt und zu realisiren sucht,
auf sie hereinbrechen lässt: sie macht nur unsittliche und heillose Er-
fahrungen, wie ihre Gegenfüssler nur sittliche und fromme machen.
Der Glaube an die Tugend zur festen Gesinnung geworden, ist
der Geist Rudolfs; das Laster als feste Gesinnung repräsentirt die
Mutter Martial. Welch fürchterliches strenges Gericht lässt sie über
ihren »missrathenen« Sohn ergehen, der von der strengen Gesinnung
des Lasters nichts wissen will. Sie handhabt das Hausregiment als eine
Frau von Grundsätzen, erfüllt von Grundsätzen des Verbrechens, wie
andere Familienhäupter, von Grundsätzen des Guten erfüllt, eine schnei-
dende Herrschaft üben und gleich Brutus das Vatergefühl ersticken.
Ist die Majestät der Tugend eine wesentlich andere als die Majestät
des Lasters, und die eine feste Satzung erträglicher als die andere?
An seinem früheren Roman Atar Gull hätte E. Sue lernen können,
wie Rachegefühl und Rechtsgefühl identisch sind, wie das Gute und
Böse in Eins zusammenfallen, wie der schwarze Mohr des Teufels
ist, nur wegen seiner Schwärze, der weise Pariser aber, der jenem den
Tugendpreis zuerkannt, Gottes, nur wegen seiner undurchglühten Weisse;
aber an dem guten Dichter ist so wenig mehr zu bessern, als an
seinen Romanfiguren, die, wenn sie sich bekehren, nur jämmerlicher
und sclavischer werden und werden müssen, als sie zuvor waren.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 290, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-08_n0290.html)