Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 291
Text
Da wir an den Hauptpersonen und einigen anderen sehen, dass
sie gebundene, geknechtete Charaktere sind, die durch ihre Triebe und
durch ihren Glauben beherrscht und um alle Selbstschöpfung und Selbst-
angehörigkeit gebracht werden, so brauchen die untergeordneten nicht
besonders erwähnt zu werden. Es ist klar, der Dichter brachte es zu
nichts als zu bornirten Menschen, deren ungebildete Natürlichkeit oder
unnatürliche Bildung, Begierden oder Satzungen, die und die Schick-
sale bereiten. So ist allerdings die Welt, und E. Sue hat nur be-
wiesen, dass er sich das Wohlgefallen dieser Welt erwerben, aber
nicht, dass er sie aus ihren Angeln heben und — erlösen kann.
Kein Wunder, dass die Mysterien so grossen Anklang fanden.
Die sittliche Welt empfängt ja an ihnen die gelungenste Ausgeburt der
Philisterhaftigkeit, das getreue Abbild ihrer eigenen Menschenfreund-
lichkeit, das volle Echo derselben Klagen, in welche auch sie aus-
bricht, die gleiche Reformsucht in Dingen, an denen so wenig mehr
zu reformiren ist als am Türkenthum. Mahmud II. war nicht der ein-
zige wohlwollende und unnütze Reformator unserer Zeit; der gesammte
Liberalismus — und wer wäre heute nicht, er stehe hoch oder niedrig,
liberal! — veredelt unter grossen Hoffnungen ein Türkenthum. »Unsere
Zeit ist krank!« so redet betrübten Blickes der Freund den Freund
an, und alsbald machen beide einen botanischen Streifzug, um unter
den lieblichen Kräutern des Landes das »rechte Heilmittel« zu suchen.
Ihr Freunde, euere Zeit ist nicht krank, sie ist abgelebt: darum
quält sie nicht mit Heilversuchen, sondern erleichtert ihr letztes Stünd-
lein durch Beschleunigung und lasst sie — genesen, kann sie nicht
mehr — lasst sie sterben.
»Ueberall Mängel, Gebrechen!« Das räumt ihr selbst ein, und
hegtet ihr etwa noch Zweifel, so schlagt die Mysterien auf, um das
ganze Elend der Gebrechlichkeit anzuschauen. Versucht’s einmal, das
Türkenthum zu »reformiren«. Indem ihr hofft, es zu heilen, werdet
ihr’s — zersetzen. Es hat keine Mängel, so wenig als ein Greis als
Greis deren hat. Freilich geht dem Greise die Kraftfülle der Jugend
ab, aber er wäre eben nicht Greis, wenn er sie hätte, und wer diesem
»Mangel« des Greisenalters abhelfen wollte, der wäre ein wohlmeinender
Reformator wie Mahmud II. und unsere Liberalen. Der Greis geht der
Auflösung entgegen, ihr aber möchtet ihn verjüngen, sein schlotterndes Ge-
bein wieder straff ziehen. Nicht krank ist unsere Zeit, um geheilt zu werden,
sondern alt ist sie, und ihr Stündlein hat geschlagen. Dennoch springen
Tausende von E. Sue’s herbei und bieten ihre heilsamen Quacksalbereien an.
Soll man schliesslich noch ein Wort verlieren über die vortreff-
lichen Einrichtungen des Fürsten aus dem Wohlthäterorden und die
philantropischen Vorschläge des Romanschreibers selber? Sie laufen
ja alle darauf hinaus, die Menschen durch Belohnung oder Bestrafung
so lange zu »treten«, bis sie die Tugend zu ihrer Herrin machen! Es
sind Anträge zu Staatsverbesserungen, wie man vor der Reformation
deren unzählige zur Kirchenverbesserung machte: Verbesserungen, wo
nichts mehr zu verbessern ist.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 291, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-08_n0291.html)