Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 293

Künstlerherzen (Drachmann, Holger)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 293

Text

KÜNSTLERHERZEN.
Erzählung von Holger Drachmann.
Autorisirte Uebertragung aus dem Dänischen von Carl Küchler.
(Schluss.)

Dritter Brief.

Was ist das Eigenthümliche im Leben für erfahrene Männer,
wenn ihnen das eine oder das andere Unvermuthete widerfährt?

Antwort: Dass sie immer vergessen, nach ihren Erfahrungen zu
handeln.

Ja, mein lieber Morten, es gab da drinnen im Walde eine Stelle,
die der eine oder andere Waldhüter aus der ästhetischen Periode
gleichsam als einen Treffpunkt für die Bewohner beiderlei Geschlechts
der Umgegend ausgezeichnet hatte.

Auf der Höhe eines Hügels, wo mächtige Buchen wie hohe
Säulen in einem Halbkreise um den Abhang standen, war in einer
Lichtung des Unterholzes eine hübsch gearbeitete, bequeme Naturbank
angebracht worden. Man konnte von hier aus über Büsche und
niedriges Strauchwerk hinunter in das Thal und hinauf nach den
waldigen Hügeln auf der entgegengesetzten Seite sehen; und ohne
selbst gesehen zu werden, konnte man bis weithin einen Jeden beob-
achten, der sich auf dem Fusssteige näherte, dessen lichtes Band sich
in Windungen durch das Unterholz emporzog.

Es war in der zweiten Woche meines Hierseins, und ich wanderte
nun regelmässig jeden Tag in der heissen Mittagszeit, wo sich das
ganze Nest ruhig in den Stuben hielt, hinauf nach der Bank, spähte
unruhig hinab über den Pfad und hörte den Schlag meines Herzens
und fühlte die Hitze meiner Wangen, wenn ich in der Ferne den
Schimmer der lichten Sommerkleider entdeckte. Dann sammelte ich
meinen Vorrath gebührenden Geistesreichthums, kleine, neue Erzählungen
über ein und denselben Gegenstand, jene fröhliche Liebenswürdigkeit
der Seele, die dereinst so natürlich war, und die man sich so gern
selbst zu glauben überreden möchte, in gleicher Weise ewig so fort-
bestehen könnte. Und dann kamen die langen, schweigsamen Minuten
ohne Geistesreichthum, ohne Nachdenken und ein Erwachen aus den
Träumen, in welchen man sich Gegenwart und Zukunft klarzustellen
suchte und es doch immer wieder bis zum »nächsten« aufschob.

Und was brachte ich nun von diesen Zusammenkünften mit
heim? Denn selbstverständlich ein erfahrener Mann bringt doch eine
Ausbeute mit und schwelgt nicht wie ein Junge auf einem Kirsch-
baume, nur um zu schwelgen, sondern denkt über die Süssigkeit

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 293, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-08_n0293.html)